Urlaub 2025: Karneval in Rio de Janeiro

Brasilien im Karneval! Ein ganzes Land im Ausnahmezustand – und Rio vornweg! Bei schweißtreibenden 35 ° steppt am Zuckerhut der Bär.

 

 

 

Im Sambodrom

 

 

 

Der Straßenkarne-val formiert sich spontan. Umzüge im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Man freut sich einfach an einem verrückten Outfit. Wo sich einige Verkleidete zusammentun, finden sich bald weitere ein, bis der Platz eng wird und der Verkehr umgeleitet werden muss. Niemand findet Verwerfliches daran. Es ist halt Karneval, und deshalb wird die Ausnahme zur Normalität. Egal! Trotz der Unmassen von Menschen, die hier zu lauter Techno-Musik rhythmisch zucken, gibt es keine Schnapsleichen zu besichtigen. Auch die Örtlichkeiten sind vergleichsweise ordentlich und sauber. Nicht zu vergleichen mit unseren Müllhalden nach einem feuchtfröhlichen Event!

 

 

 

 

Das Outfit der Feiernden ist atemberaubend. Angesagt ist für die Herren der Schöpfung ein albernes Baströckchen, alternativ ein neckisches Tutu. Der Klassiker beim weiblichen Geschlecht ist die Netzstrumpfhose mit riesigen Maschen, so dass man auch wirklich jede Menge Fleisch zu  sehen bekommt. Wenn man Glück hat, dann verdeckt noch ein winziger Stringtanga die edlen Teile. Aber darauf kann man sich nicht unbedingt verlassen. 

Und wenn die (über)fülligen Körperproportionen den Gesetzen der Ästhetik zuwiderlaufen – auch nicht schlimm! Verblüffend ist, mit welch unbekümmerter Sorglosigkeit die jungen Mädchen ihre kleineren und größeren Schönheitsfehler zur Schau stellen. Doch durch solche Kleinigkeiten wie Übergewicht und Zellulitis lässt man sich den Spaß am Feiern doch nicht verderben!

 

Doch wenn’s ernst wird, kennt der brasilianische Karneval kein Pardon. Und das ist spätestens dann der Fall, wenn die große Parade ansteht. Vier Sambaschulen wetteifern dieses Jahr um den Titel. Ein Millionengeschäft, wenn man gewinnt!

Das Sambodrom wird für eine Nacht lang zum Maß aller Dinge, Zentrum eines närrischen Universums der Superlative. Eine breite Straße, 800 Meter lang, beidseitig versehen mit Tribünen, die bis auf den letzten Platz ausverkauft sind. Pfeif auf die horrenden Preise! Feuerwerke und rhythmische Musik stimmen schon vor Beginn der Parade die Menschenmassen auf das Event ein. Da brennt die Luft.

 

Dann beginnt die Parade. Im Zeitlupentempo bewegt sich der Zug durch das Sambodrom und stellt sich einer strengen Jury, die bei allen möglichen Verstößen Minuspunkte vergeben kann. Wer hat die einfallsreichsten Wagen? (gigantische Konstrukte, gegen die die Motivwagen in Köln und Mainz wie Go-Carts wirken!). Wer hat die fetzigste Musik? (Ob sie das Publikum zu konvulsivischen Zuckungen animiert, ist ebenfalls Teil der Bewertung!) Wer hat die farbenfrohsten Kostüme? (etwa 2500 Mitglieder pro Sambaschule(!) tanzen auf der Straße). Schafft es die Schule, die Parade in der vorgegebenen Zeit von 80 Minuten durchzuführen? (Stoppuhr läuft mit! Und man ahnt es schon: Bei Überziehung: Punkteabzug!).

 

Auf den Wagen tanzen athletisch gebaute Jünglinge und natürlich brasilianische Schönhei-ten. Da wird man vergeblich nach Zellulitis suchen. Das Aussehen dieser Augenweiden für beiderlei Geschlechter ist ebenfalls im Blickfeld der Jury. Da überlässt man nichts dem Zufall.

 

Die Agitatoren der Züge, ob Aktive oder Organisatoren, sind Personen von öffentlichem Interesse, mit einem höheren Bekanntheitsgrad als so mancher Politiker. Als z.B. ruchbar wurde, dass einer der Manager seine Frau betrogen hat, ging ein Aufruf durch die Presse, dass das Publikum den Namen der bedauernswerten Ehefrau rufen sollte, sobald der Wagen auftaucht, für den der verruchte Ehebrecher zuständig war. Und so geschah es auch. Es geht doch nichts über weibliche Solidarität.

Die Gruppen-,  nein, die Massendynamik führt dazu, dass sich die Menschen im Nu begeistern, empören, in Ekstase oder in tiefe Trauer versetzen lassen. Die Gefühle, egal welcher Art, werden offensiv nach außen getragen.

 

Spätestens jetzt wird klar, dass man in einem anderen Universum gelandet ist.

 

Am Aschermittwoch fällt dann die Jury ihr Urteil über den Gewinner – eine Entscheidung, die größeres Interesse hervorruft als jede Präsidentschaftswahl.

 

 

 

 

 

 

 

Apropos Präsidentschaft! (Man beachte den eleganten Übergang zur Politik!)

Die hohen Erwartungen, die das Volk nach der Abwahl des ultrarechten Bolsonaro hatte, sind durch eine tiefe Enttäuschung abgelöst worden. Der ultralinke Lula da Silva löst die Probleme auch nicht. Die Lebenshaltungskosten schießen durch die Decke, und wie man bei so großen Sorgen noch ausgelassen feiern kann, ist ein brasilianisches Phänomen.

 

Aber vielleicht ist, im Gegenteil, genau das der Grund. Diese „Jetzt-erst-recht-Haltung“ zeigt jedoch deutlich die Unterschiede zwischen unserer und der südamerikanischen Mentalität. Unsere Spezialität ist eher jammern und nörgeln. Darin sind wir richtig gut.

 

Auf jeden Fall aber erklärt es die omnipräsente Korruption, die gesellschaftlich akzeptiert ist. Kaum ein Beruf ist so gut dotiert, dass man bequem davon leben kann. Irgendwie muss (!) ein Nebenverdienst her. Dass auch Polizei und Bürokratie korrupt sind, führt dazu dass die Staatsmacht nicht im mindesten respektiert wird. Eine Entwicklung, die kaum mehr zurückgedreht werden kann.

 

Einen größeren Kontrast als zu dem sittenstrengen Singapur (s. Reisebericht 2024) kann es nicht geben. In Brasilien wird wenig geahndet, so dass die Grenzen maximal ausgereizt werden. Eine rote Ampel z.B. ist bestenfalls eine freundliche Empfehlung – mehr nicht!

 

Aber die Lebensfreude ist, anders als in dem disziplinierten Singapur, ebenso überbordend wie die Arbeitsmoral dürftig ist. Man kann eben nicht alles haben.

 

 

Rio ist ein echtes Highlight. Die feinsandige und liebevoll gepflegte Copacabana, der buckelige Zuckerhut mit den gebirgigen Hügelketten in weiter Ferne, der imposante Christus auf dem Corcovado – das alles atmet einen exotischen Reiz. Der Bildhauer hat seiner Statue einen gütigen Gesichtsausdruck verliehen. Vielleicht ist aber auch etwas Ratlosigkeit darin enthalten. Die Frage, warum seine Geschöpfe immer noch die lebenswichtigen Regenwälder abholzen, kann offenbar auch er nicht beantworten. Und vielleicht sind die ausgebreiteten Arme auch ein Zeichen seiner Hilflosigkeit. Wer weiß?

 

 

 

 

Eine Erfahrung allerdings imponiert mir ungeheuer. Mit der mache ich bei der Einreise erste Bekanntschaft.

Ich stehe bei der Passkontrolle in einer langen Schlange und werde von einem Beamten rausgewunken. Noch bevor ich mein Gewissen erforschen kann, was ich wohl falsch gemacht haben kann, löst sich das Rätsel: Ich gehöre zu den Alten!

Wer über 60 ist, gehört zu einer besonders schützenswerten Kaste, wo man bevorzugt behandelt wird. Würde ich in Brasilien leben, wäre die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel und der kulturellen Einrichtungen (das Sambodrom natürlich ausgenommen) kostenfrei.

Das gefällt mir. Anderswo weiß man offenbar die kostbare Weisheit des Alters zu schätzen, an der ich teilhabe.

In Frankfurt angekommen, ist dieser sympathische Spuk leider wieder vorbei. Ich tröste mich damit, dass man mir zu Hause mein Alter vielleicht nicht so genau ansieht.

 

 

 

Der Karneval ist vorbei, und ich bin am Aufarbeiten der Erlebnisse.

Wir haben die Alemannen beobachtet, wie sie mit ihren Hexenmasken den Winter austrieben, haben im Rheinland beim Straßenkarneval die Persiflage auf das Preußentum erlebt und dem treuen Husaren gehuldigt, haben bei der politischen Saal-Fasenacht genossen, wie die Narren den Mächtigen den Marsch geigen, und wir haben den mystischen und melancholischen Karneval in Venedig mitgemacht (s. Bilder davon in meinem ‚Sammelsurium‘) – der Karneval in Rio stand noch ganz oben auf der Agenda unserer Reisen.

Dazu ist es nicht mehr gekommen. Fritz‘ Krankheit hat es zu verhindern gewusst.

 

Jetzt habe ich ihn gesehen. Allein.

 

Aber ich bin sicher, dass er an meiner Seite war. Und wahrscheinlich ist er, Frohnatur, die er nun mal war, auch in rhythmische Zuckungen verfallen, als der Samba losging…