China

                        Zu Besuch im Reich der Mitte

 

Fünfmal schon habe ich China besucht, immer im Rahmen von Wettkampfreisen. Aber da lernt man lediglich den Flughafen, das Hotel und die Wettkampfstätten kennen. China ist jedoch ein Land, das durchaus seine touristischen Highlights hat. Deshalb ist ein gründlicher Besuch ein absolutes Muss.

 

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als diesmal von unserer üblichen Methode (Flieger buchen, Leihwagen ordern und dann auf eigene Faust los) abzuweichen. Um einen Leihwagen zu bekommen, musst du erst einmal einen chinesischen Führerschein machen. Damit hat sich die Sache erledigt, und wir buchen zum ersten Mal eine organisierte Reise.

 

Die Rundreise beginnt im Süden Chinas.

 

 

Guilin

Schon am Flughafen sehen wir als landschaftliche Kulisse die seltsamen Kalksteinberge, die so typisch für diese Gegend sind. Der Besuch einer gigantischen Tropfsteinhöhle stimmt uns ein auf einen außergewöhnlichen Besuch. Das Erlebnis ist unbeschreiblich.

 

 

Aber es wird noch getoppt durch eine Bootsfahrt auf dem Li-Fluss, rechts und links vom Ufer eine geradezu unwirkliche Mondlandschaft. Traumhaft!

 

Wieder zurück in der Realität, möchte Fritz sich auf dem Basar in Guilin einen Gürtel kaufen, doch keiner ist den germanischen Maßen gewachsen. Mit (gespielt) wachsender Verzweiflung probiert er einen nach dem anderen an. Nach dem zehnten vergeblichen Versuch legt er dem Verkäufer das Teil wie eine Schlinge um den Hals. Der ganze Basar hallt wieder vom Lachen aller Umstehenden. Von jetzt an hat mein Mann eine immer größer werdende Schar von Bewunderern um sich, die wissen wollen, was dieser blonde Germane noch alles an Lockerheiten draufhat.

 

 

Hangzhou

Angeblich ist dieser Ort das Paradies auf Erden. Das jedenfalls ist die kompetente Meinung von Marco Polo, und der muss es ja wissen. Wir sind geneigt, uns seinem Urteil anzuschließen. Die Stadt besteht offenbar nur aus Gärten und Seen.

 

Eine Bootsfahrt durch ein Meer von Lotosblüten hat etwas ungemein Entspannendes an sich. Ein Gleiches gilt aber auch für einen Besuch der vielen Gärten. Ich bedaure, dass ich zu wenig weiß um die Symbolik, mit der immer wieder in wechselnden Variationen Pflanzen, Wasser und Steine kombiniert werden.

 

Wir stehen in einer Art Pavillon mit vier Öffnungen nach allen vier Himmelsrichtungen. Die nach Norden z.B. zeigt nur weiße Blumen. Sie symbolisieren den Winter, die anderen die übrigen Jahreszeiten. Es ist faszinierend.

 

Der Garten ist voller Besucher, und trotzdem herrscht eine tiefe Stille. Nirgendwo ist laute Konversation zu hören, von Gelächter oder gar Musik ganz zu schweigen.

 

Ich bekomme eine Ahnung davon, dass die fernöstlichen Weisheiten der großen Philosophen aus dieser meditativen Stille geboren wurden.

 

 

Suzhou

In der berühmten Seidenstadt werden wir bekannt gemacht mit der Herstellung von Seide. Kaum zu glauben, dass diese kaum sichtbaren Fäden, aus denen ein Kokon besteht, eine solch große Reißfestigkeit haben. Die Rohseide ist unansehnlich, aber nach einer gezielten Bearbeitung steht am Ende ein glänzender Stoff von leuchtender Farbe.

 

Die Seide durchläuft eine ähnliche Metamorphose wie die Raupe, die zum Schmetterling wird.

 

Nanking

Die Stadt war zu früheren Zeiten einmal die Hauptstadt des südlichen Reiches gewesen. Als Stadt selbst überzeugt sie uns nicht, sie wenig attraktiv.

 

Sie bezieht ihre Bedeutung dadurch, dass hier die Grabstätte Sun Yat-sens ist. Eine durchaus interessante Persönlichkeit. Immerhin setzte er sich für die Erneuerung Chinas auf republikanischer Grundlage ein, war vorübergehend gar Präsident der Gegenregierung und verfasste die staatsrechtliche Lehre von den „Drei Grundsätzen der Volksherrschaft“.

 

Also folgen wir bei schweißtreibenden Temperaturen dem täglichen Pilgerzug der Chinesen hoch in die Purpurhügel, wo der große Mann in seinem Mausoleum haust.

 

 

Shanghai

Die Hitze ist schier unerträglich.

 

Ein Spaziergang am Bund, der berühmten Hafenstraße, ist alles andere als gemütlich. Immer wieder flüchten wir in die Kaufhäuser. Aber nicht etwa, weil wir im Kaufrausch sind, sondern weil dort die Air condition für Erleichterung sorgt. Am besten ist man dauerhaft unter der Dusche aufgehoben. Aber nur fünf Minuten, nachdem man die schützenden Wände des Hotelzimmers verlassen hat, ist man schon wieder klatschnass.

 

Gegen fünf Uhr morgens verlasse ich das Hotel. In der Nähe gibt es einen hübschen Park, und ich möchte den Sonnenaufgang fotografieren. Aber dann bietet sich mir ein Spektakel ganz anderer Art:

 

Immer mehr Menschen strömen in den Park, mindestens hundertfünfzig, wenn nicht noch mehr. Alle Altersgruppen sind vertreten, sogar Kinder sind dabei. Es ist Zeit für die Frühgymnastik, Tai Chi ist angesagt. Mit geschmeidigen Bewegungen, bei völliger Körperkontrolle, laufen hier die Übungen ab.

 

Auch das vollzieht sich in tiefster Stille, kein plärrender Vorturner übernimmt hier das Kommando.

 

Ich lasse meine Kamera in der Tasche, obwohl das Bild durchaus spektakulär ist. Dies zu fotografieren scheint mir ein unangemessener Eingriff in die persönlichste Privatsphäre der Menschen zu sein.

 

 

Xian

Der Besuch der berühmten Terrakotta-Armee ist ein absolutes Muss. Kaiser Qin Shi Huangdi hatte sie so um 200 v.Chr. erbauen lassen. Um die 6000 Krieger und Pferde stehen stramm in Reih und Glied, alle absolut individuell gestaltet, mit unverwechselbaren Gesichtszügen.

 

Wozu die Armee diente, ist bis heute nicht geklärt: Ob hier die Attrappe einer schlagkräftigen Armee potentielle Feinde einschüchtern sollte (im Ernstfall wären sie wohl nicht sehr wehrhaft gewesen!) oder ob es eine simple(!) Grabbeigabe für den Kaiser war - darüber streiten sich die Experten.

 

Die Stätte ist ohnehin etwas gespenstisch. In dem unterirdischen Grabpalast des Kaisers soll es einst Flüsse aus Quecksilber gegeben haben.

 

Die schummrig beleuchtete Halle ist für die Besucher freigegeben, aber eins ist strikt verboten: zu fotografieren. Das ist ärgerlich für jemand wie mich, der in diesem Besuch den eigentlichen Höhepunkt der Reise gesehen hat. Mit etwas mulmigem Gefühl fasse ich den Entschluss: Ich wage es. Ich setze mein Spiegelreflexkamera auf das Geländer auf, so dass das Objektiv in etwa auf die Armee gerichtet ist, belichte von Hand, damit kein Blitz ausgelöst wird, und während ich mich mit meinem Mann angelegentlich unterhalte, löse ich aus. Das Klicken lässt zwar einen der Wächter misstrauisch zurückblicken, aber die Situation ist unverfänglich. Niemand merkt etwas.

 

Zu Hause erwarte ich gespannt die Entwicklung der Bilder. Ich bin mit dem Ergebnis recht zufrieden: Selbst geschossene Fotos von der Terrakotta-Armee in durchaus präsentablem Zustand!

 

Allein dafür hat sich die Reise schon gelohnt!

 

 

Beijing

Die Hauptstadt ist die letzte Station der Reise.

 

Der Besuch des kaiserlichen Sommerpalastes entführt in längst vergangene Zeiten, der der verbotenen Stadt hinter der Mauer am Tian‘an Men – Platz in jüngere Vergangenheit. Fritz und ich werfen sogar einen Blick in den mächtigen Plenarsaal des Parlaments mit den typischen Flaggen als Hintergrund: Hier werden heute die Entscheidungen getroffen: Wir sind im Zentrum der fernöstlichen Macht.

 

 

Fritz ist mit einer Magenverstimmung im Hotel geblieben.

Ich spaziere, um mir die Zeit zu vertreiben, über den „Platz des Himmlischen Friedens“ und folge einer spontanen Idee: Wie wär’s, wenn ich mal bei Mao vorbeischauen würde. Der liegt da in seinem Mausoleum und langweilt sich mutmaßlich. Vielleicht freut er sich über meinen Besuch.

 

Also reihe ich mich in eine endlos lange Schlange von Menschen ein, die alle dieselbe Absicht haben. Zentimeterweise nur bewegt sie sich vorwärts. Was soll’s? Ich habe ja Zeit.

 

Neben der Schlange patrouillieren mehrere Posten, mit Maschinengewehren bewaffnet und gucken grimmig. Plötzlich zeigt ein Zeigefinger energisch auf mich. Ich schaue mich um, aber dann wird klar: Er meint wirklich mich. Der Finger lotst mich aus der Menge heraus.

 

In Windeseile eine Gewissenserforschung: Was könnte ich falsch gemacht haben? Keine Ahnung! Meine Panik: Keiner weiß, wo ich bin. Ich verfluche meine Idee, mich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben, ohne meinen starken Mann an meiner Seite zu haben. Mit weichen Knien folge ich meinem Zerberus, während sich die Menschen in der Warteschlange die Köpfe verdrehen, um zu sehen, wie ich abgeführt werde.

 

Doch dann nimmt das Ganze doch noch eine versöhnliche Wendung: Ich werde zu einem Seiteneingang geführt, und es stellt sich heraus, dass dies ein Entgegenkommen den Touristen gegenüber ist. Man will ihnen die lange Warteschlange ersparen.

 

Ich möchte mich artig mit einer braven Verbeugung bedanken, doch der Wächter blickt stur durch mich hindurch. Keine Regung in dem breitflächigen Gesicht. Gut! Dann eben nicht! Diese Asiaten sind schon eine Klasse für sich!

 

 

Nachdem ich meine Tasche und meine Kamera abgegeben habe, darf ich den Saal mit dem gläsernen Sarkophag betreten. Kühle schlägt mir entgegen, eine diffuse Dunkelheit, nur die Aufbahrungsstätte ist erleuchtet.

Und da liegt er: Mao Tse Tung! Der Initiator des „Großen Marsches“. Gut sieht er aus, braungebrannt, nicht so kränklich blass wie seine beiden Revolutionärskollegen Ho Chi Minh in Hanoi und Lenin in Moskau. Fast rechnet man damit, dass er aufspringt und eine neue Kulturrevolution anzettelt.

Seine letzte hat die schier unglaubliche Zahl von 80 Millionen seiner Landsleute das Leben gekostet, durch Zwangsumsiedelungen, Aufstände, Massenhinrichtungen und vor allem durch Hungersnöte. Die Chinesen sind zu Hunderttausenden verhungert, infolge einer katastrophal falschen Planwirtschaft des Staates.

Dass trotz dieser furchtbaren Bilanz die Menschen mit ungebrochener Verehrung zu seiner Beisetzungsstätte hinpilgern, dürfte zu den ungelösten Rätseln der Menschheit gehören. Aber es ist ja kein Einzelfall, dass die größten Verbrecher der Geschichte auch das größte Charisma haben.

 

 

 

Der letzte Höhepunkt unserer Reise steht an: Wir besteigen die Chinesische Mauer, das einzige Bauwerk, das man sogar vom Mond aus sehen kann. 6000 Kilometer ist sie lang und gedacht als Bollwerk gegen die Mongolen im 13. Jh.

 

In Badaling, eine Stunde von Beijing entfernt, hat man einen Abschnitt touristengerecht restauriert. Myriaden von Menschen drängen sich, um bis zu dem höchsten Wachturm zu gelangen. Und wir mitten drin!

 

Das war’s. Das Pflichtprogramm ist absolviert -  wir haben alles gut überstanden. Auf dem endlos langen Rückflug haben wir genügend Muße, um die eindrucksvollen Bilder wieder Revue passieren zu lassen.

China ist in der Tat eine Reise wert.