Leseprobe 1

 

Unter Miriams Einfluss beginnt Charles, sein Verhältnis zu seinen Sklaven zu überdenken. Er bemüht sich, Fehler aus der Vergangenheit zu bereinigen.

 

   Der Termin für die Hochzeit stand fest! Charles hatte das Gefühl, als ob dieser 27. September die Geburtsstunde eines neuen Lebens sein würde, eines Lebens, das er derzeit auf Probe lebte, von dessen paradiesischen Momenten er kleine Häppchen abbekam, kleine Kostproben des Glücks, der Erfüllung, umgeben von Menschen, die er liebte und die ihn liebten, die jeden Tag zu einem Ereignis machten, auch wenn nichts, aber auch überhaupt nichts Wichtiges, nichts Gravierendes passierte. Er freute sich jeden Morgen, wenn er neben dem schönen Mädchen mit den klaren Augen aufwachte, er freute sich auf den Tag mit ihr, auf eine Tasse Kaffee mit Ann und Richard und auf einen heiterkeitsträchtigen verbalen Waffengang mit Mike.

   Aber trotzdem hatte er immer das Gefühl, dass es sich nur um ein geborgtes Glück handelte. Noch konnte alles wie eine Seifenblase zerplatzen. Erst mit der Trauung würde alles seine Richtigkeit haben. Er hatte keinen allzu engen Bezug zur Kirche. Aber in diesem Fall brauchte er die offizielle Absegnung, die Bestätigung seines Glücks durch eine unanfechtbare Autorität. Niemand durfte mehr den geringsten Zweifel haben, dass diese außergewöhnliche Frau an seine Seite gehörte. Father Ken McEvan würde der wichtigste Mann des Tages werden. Er noch mehr als der Friedensrichter von Asheville, der ihre Ehe ebenfalls dokumentieren musste.

   Diesen Neubeginn seines Lebens wollte er ernst nehmen. Was in der Vergangenheit passiert war, konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Auch die dunklen Punkte seines Lebens würden auf seinem Konto eine unauslöschbare Größe sein, resistent gegen jeden Versuch, sie zu vergessen. Also musste man mit ihnen umgehen, musste sie anpacken. Sie zu ignorieren, zu warten, bis sie von selbst ihre Schändlichkeit verloren – das war der falsche Weg. Er hatte gelernt, sich seinen Fehlern zu stellen, auch wenn es weh tat. Er war es sich und Miriam schuldig, alle Altlasten aus seinem bisherigen Leben zu entsorgen und frei in ein neues Leben zu starten.

   Und da war in der Tat ein übler Fleck auf seiner auch sonst nicht ganz sauberen Weste der Ehre. Was immer mit Maureen im Zusammenhang stand – da konnte er nichts mehr ändern. Aber jemand anderes lebte noch. Und es nagte an Charles, dass er ihm nicht in die Augen sehen konnte.

   Charles durchmaß mit langen Schritten sein Zimmer. Trotz des guten Vorsatzes fiel es ihm nicht leicht, die entsprechenden Taten folgen zu lassen. Um Verzeihung zu bitten – dazu bedurfte es eines besonderen Wortschatzes, über den Charles nicht so locker verfügte. Galanterien und Handküsse waren eher seine Domäne, aber die waren in diesem Zusammenhang nicht sonderlich gefragt.

   Charles gab sich einen Ruck, verließ sein Jagdzimmer und begab sich zu den Sklavenbaracken.

*

   Ungläubiges Erstaunen malte sich in den Gesichtern der sechs Schwarzen ab, als Charles mit einem Ruck die Tür aufmachte und mit zwei Schritten mitten im Zimmer stand. Zu der Geste höflich anzuklopfen – dazu konnte er sich nun doch nicht durchringen.

   Unwillkürlich sprangen die Männer von ihren Plätzen. Links an der Wand stand Zacharias. Sein ebenholzschwarzer, bloßer Oberkörper gab den Blick frei auf jeden Muskel seiner mächtigen Arme. Auch George, der Älteste, der Charles bei seinem Kampf gegen die lausigen Astlöcher geholfen hatte, hatte sein Hemd ausgezogen und verströmte den Eindruck einer elementaren Körperkraft. Jacob, einer der Sänger, Jimbo und Samuel drängten sich aneinander. Ob sie sich gegenseitig schützen wollten vor diesem hochgewachsenen Weißen mit dem durchdringenden Blick oder ob sie eine Mauer aus Aggression bildeten – das war zunächst nicht auszumachen. Doch Charles beachtete sie gar nicht. Sein Interesse galt dem sechsten Mann in diesem Raum.

   „Ich bin gekommen, um mit dir zu reden, Matthew.“

   Matthew antwortete nicht. Er war ein gut aussehender Schwarzer, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, von mittlerer Statur, aber, wie alle anderen auch, durchtrainiert und bemuskelt durch die tägliche harte Arbeit auf den Feldern. Er starrte Charles an, und sein Gesichtsausdruck war kaum zu deuten. Zu viele widersprüchliche Empfindungen spiegelten sich in seinen Zügen. Da war Angst vor dem Mann, dem er die schlimmsten Augenblicke seines Lebens verdankte, da war auch Hass, aus genau den gleichen Gründen, da war aber auch, und das verwirrte ihn am meisten, ein Anflug von Bewunderung für diesen Herrenmenschen, der kaltblütig und scheinbar ohne jede Sorge um sein Leben hier in ihren Lebensraum eindrang.

   Hier war jedoch weniger Bewunderung angebracht als er glaubte. Charles hatte einfach aus einer arroganten Gedankenlosigkeit heraus die Idee gar nicht erst zugelassen, dass seine Schwarzen aggressiv sein könnten. Dabei hätte ihm die Szene nach dem Tod der alten Thilda schon eine Warnung sein müssen. Er hätte natürlich nicht auf den Besuch in der Baracke verzichtet. Nein, aber er hätte ein Messer oder eine Pistole mitgenommen für den Fall der Fälle. Ein Messer oder eine Pistole, die er jetzt nicht hatte.

   Matthew war immer noch nicht im Reinen mit sich und seinen Absichten. Er verspürte den Drang die Hand zu heben zu dem alles entscheidenden Fanal zum Angriff gegen den weißen Peiniger, empfand jedoch gleichzeitig ein Verzagtsein, das ihm die Hand lähmte. Er schaute hilflos zu Zacharias. Der zügelte in seinen Blicken weder den Hass noch die Verachtung, die er für Charles empfand, rührte sich jedoch auch nicht von der Stelle.

   George, Jacob, Jimbo und Samuel, die restlichen vier Schwarzen, schienen die Gefühlsskala der beiden anderen nicht zu teilen. Sie schickten sich an, den Raum zu verlassen. Der Master wollte mit Matthew sprechen, nicht mit ihnen.

   „Bleibt!“, befahl Charles, ohne Schärfe in der Stimme. „Ihr könnt alle hören, was ich Matthew zu sagen habe. Setzt euch wieder.“

   Die Männer gehorchten. Lediglich Matthew und Zacharias blieben stehen, in einer ungemütlichen Mischung aus Unsicherheit und Trotz. Charles insistierte nicht.

   „Zieh dein Hemd aus!“, befahl er Matthew. Und auch diesmal entschärfte der moderate Ton den Befehl. Matthew ließ sich einen langen Moment Zeit, seinen Blick fest verhakt in den von Charles, dann zog er langsam sein Hemd aus.

   Charles war froh, dass er einen Grund hatte, seine Augen von denen seines Gegenübers zu lösen. Das war kein einfaches Duell gewesen. Er hatte den Blick eines Mannes aushalten müssen, in dem er die ganze Verachtung für eine schändliche, ruchlose Tat verspürte, den Vorwurf, ein verdammter, ehrloser Schweinehund zu sein. Und das Schlimmste war, dass er dem noch nicht einmal widersprechen konnte – weder in Worten, noch in Blicken. Er widmete schließlich mit einiger Erleichterung sein ganzes Interesse den beiden Narben an Matthews rechtem Oberarm und an der linken Hüfte. Dann holte er tief Luft. Er wollte es hinter sich bringen.

   „Diese Narben habe ich ihm beigebracht“, sagte er mit klarer Stimme. Der Adressat seiner Worte war nicht ganz klar. Vielleicht war das als Erklärung für die fünf anderen Anwesenden im Raum gedacht, wobei er davon ausgehen konnte, dass jeder im Raum die Geschichte dieser Verletzungen kannte. Vielleicht redete er aber auch zu sich selbst, in dem Bemühen, schuldhaft Gewordenes klar auf den Punkt zu bringen, um dadurch den Selbstreinigungsprozess zu ermöglichen.

   Die Schwarzen im Raum hielten den Atem an. Das Gespräch nahm eine erstaunliche Wendung.

   „Ich erinnere mich nicht mehr an alles“, fuhr Charles fort. „Ich glaube, du hattest einen Krug zerbrochen. Keinen wertvollen, aber das war auch nicht wichtig. Der Krug war ohnehin nur ein Vorwand dafür, einen Menschen quälen und demütigen zu können.“

   Er schwieg einen Moment lang. Dann sagte er:

   „Das war schlimm. So darf man einen Menschen nicht behandeln.“

   Seine Stimme ließ jedes Pathos vermissen. Er erklärte mit einfachen Worten einen einfachen Sachverhalt. Sein Blick suchte wieder den seines Gegenübers. Fassungslos sah Matthew seinen Herrn an. Doch jetzt waren es seine Augen, die verschwammen und die Konfrontation zu scheuen schienen.

   „Ich könnte mein Verhalten erklären durch meine Krankheit, aber entschuldigen kann ich es nicht. Es bleibt ehrlos und niederträchtig.“

   Das waren eigentlich stärkere Worte als er beabsichtigt hatte, aber das war ihm jetzt gleichgültig. Er sah im Geiste wieder die panisch aufgerissenen Augen des Jungen, der versuchte, sich vor den fliegenden Messern in Sicherheit zu bringen, hörte den Schrei, als ihn das Messer zum ersten Mal traf, sah die Pistole in seinen Händen, mit der er den jungen Schwarzen zwang, die Messer wieder einzusammeln und sie ihm zu bringen, damit das Spiel in die zweite Runde gehen konnte. Wieder sah er die Messer fliegen. Er war gut im Werfen, zielsicher und geschickt. Noch konnte er schwungvolle Bewegungen ausführen. Ein Jahr später würden ihm Vergnügungen dieser Art nicht mehr möglich sein. Da würden seine Gliedmaßen in einem Panzer von Schmerz gefangen sein. Aber noch ging es lustig zu. Er traf den Jungen ein zweites Mal, diesmal in der Hüfte, kommentierte den Treffer mit einem wilden Lachen – bis Winston den Raum betrat, ihm die fast leere Whiskeyflasche abnahm und bitterlich zu weinen anfing. Die Tränen des Alten zerrissen einen Vorhang in ihm, der ihm seine Niedertracht und seinen moralischen Abstieg schonungslos vor Augen führte, und er schämte sich zutiefst. Aber ungeschehen machen konnte er weder die Fleischwunden des Jungen an Oberarm und Hüfte, noch die unsichtbaren Wunden, die noch schlimmere Narben auf seiner Seele hinterließen.

   „Ich kann es nicht mehr rückgängig machen, was passiert ist. Ich kann nur hoffen, dass du mir verzeihen kannst.“

   Charles’ Stimme war absolut sachlich. Keine überflüssige Gefühlsduselei, auch keine übergroße Zerknirschung – es war lediglich die ungeschminkte Darlegung einer ruchlosen Schandtat, deren Urheber er war. Nicht mehr und nicht weniger!

   Matthews Blick flackerte. Was hier geschah, passte in kein Schema mehr. Sein Herr, dieser unnachsichtige, reizbare und oft unbeherrschte Weiße, bat ihn, den schwarzen Sklaven, um Verzeihung! Und das vor allen anderen! Jeder konnte diese seine Selbstbezichtigung miterleben. Ratlos flog sein Blick zu Zacharias.

   „Warum tun Sie das?“, fragte der an seiner Stelle. Seine Stimme klang heiser, gepresst, als habe er Mühe zu sprechen.

   Eigentlich war Charles nicht bereit, dessen Fragen zu beantworten. Er wusste um die tiefe Aversion, die Zacharias für ihn bereit hielt, und er teilte sie, weil er von dem rebellischen Schwarzen nichts als Scherereien gewohnt war. Aber er hatte die Männer zum Bleiben aufgefordert und ihnen damit auch in gewisser Weise das Recht auf Teilhabe an diesem Gespräch eingeräumt, auch diesem Halunken Zacharias, dessen Blicke nicht die mindesten Zweifel zuließen, wie viel Wut und Groll unter seiner schwarzen Haut brodelten.

   „Ich werde in nicht ganz drei Wochen heiraten. Eine ganz besondere Frau heiraten. Da will ich versuchen, mit meinem Gewissen im Reinen zu sein. Und die Sache mit Matthew war schlimm.“

   Eine Pause entstand. Das ehrliche Geständnis verlangte nach Zeit, um sich in den Köpfen aller Anwesenden seinen Platz zu suchen. Doch Zacharias hatte seine eigenen Schwerpunkte in diesem Gespräch ausgemacht. Sie hatten nichts mit Matthew zu tun.

   „Sie hat schwarzes Blut in sich.“

   Charles war nicht undankbar für die veränderte Stoßrichtung. Über Miriam zu reden war entschieden angenehmer.

   „Wie du siehst, stört mich das nicht. Sie wird ein schönes Leben an meiner Seite haben – und die Möglichkeit alles zu tun, was sie für richtig hält.“

   Zacharias brauchte nur einen ganz kurzen Augenblick, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel, bis ihm klar wurde, dass er jede Hoffnung, jeden Anspruch auf Miriam vergessen konnte. Hatte es vorher schon keinen Grund gegeben an Gefühle zwischen ihm und dem Mädchen zu glauben, so machten Charles’ wenige karge Worte klar, dass er nicht das Recht hatte von ihr zu verlangen, dass sie ein Leben in Reichtum und Luxus ausschlagen konnte, um an seiner Seite ein unfreies Sklavendasein zu führen. Miriam war in unerreichbare Fernen entschwunden, und je eher er dies akzeptierte, desto besser würde es sein. Versagen und entsagen – das waren die festen Größen in seinem Leben. Wieder einmal würde es eine weitere Variante dieses Musters geben. Eine besonders schmerzhafte Variante. Aber er war die Peitschenhiebe des Schicksals gewohnt.

   Er liebte Miriam genug, um ihr das Potenzial an Glück an der Seite des reichen Masters zu gönnen. Er war auch realistisch genug zu wissen, dass selbst der Tod des verhassten Weißen ihn seinem Ziel keinen Deut näher bringen würde. Er würde nur die Trauer der Frau, die er liebte, hervorrufen, sie aber unmöglich in seine Arme treiben. Eine tiefe Resignation griff Raum in seinem Innern, eine Resignation, die er sehr gut kannte, die ihn sein ganzes Leben schon begleitet hatte, die besonders in den Fällen übermächtig wurde, wenn er an den Stäben seines inneren Gefängnisses rüttelte, wenn er mit selbstmörderischer Verzweiflung gegen seine Unfreiheit rebellierte, Fluchtversuche unternahm, die wiederum kläglich scheiterten und die ihn, noch tiefer gedemütigt, wieder in sein Sklavendasein zurückwarfen, mit dem von der Peitsche zerschundenen Rücken und einer noch viel schlimmer gemarterten Seele.

   Miriams Einsatz damals, als das Seil schon um seinen Hals gelegt war, und sie um sein Leben bat – da war es das erste Mal in seinem trostlosen Leben gewesen, dass irgendjemand sich für ihn eingesetzt hätte. Die Erfahrung war so ungeheuerlich gewesen, dass ihm schwindelte. Doch er erkannte – nicht mit seinem Verstand, sondern mit seinem Gefühl – dass er Dankbarkeit, vielleicht Verehrung, nicht mit Liebe verwechseln durfte.

   Was er sehr wohl mit seinem Verstand wahrnahm, war, dass Miriam als Herrin von Eastbourne Castle für sie, die Schwarzen, vieles zum Guten drehen konnte. Eine Kostprobe hierfür erlebten sie gerade hautnah mit: Dieser arrogante Herrenmensch hatte sich in ihre Hütte begeben, bat einen von ihnen um Verzeihung und antwortete sogar auf sehr persönliche Fragen. Niemand hätte dagegen gewettet, dass dieses Verhalten einzig und allein Miriams Einfluss geschuldet war. Dieser unerträglich überhebliche Egoist war zu einem wirklichen Menschen geworden. Wenn man genau hinsah und sich zu einer gewissen Objektivität durchringen konnte – sogar zu einem der sympathischen Sorte!

   Er brach das Gespräch ab. Reden war ohnehin nicht seine Stärke, und gleich zwei Sätze formuliert zu haben – das erschöpfte fast schon das Kontingent für einen ganzen Monat!

   Charles wandte sich wieder Matthew zu, der ihn immer noch ratlos anstarrte. Charles wagte den entscheidenden Schritt. Er hielt ihm die offene Hand hin. Die Versöhnung trat in eine finale Phase.

   „Glaubst du, dass du mir verzeihen kannst?“

   Auch jetzt wieder kühle Sachlichkeit in der Stimme. Es war die informative Frage, ob Matthew bereit war, zu vergeben und zu vergessen. Wenn der Schwarze dazu in der Lage war – gut. Wenn nicht, dann hatte er seins getan. Mehr konnte er nicht tun. Wenigstens hätte er es versucht.

   Matthew sah die ausgestreckte Hand an, rührte sich aber nicht. Charles hatte die Geduld und den Anstand, dem jungen Schwarzen die Zeit für seinen inneren Kampf zuzugestehen.

   „Wenn du nicht einschlagen willst, werde ich das akzeptieren“, sagte er nach einer Weile. Die ausgestreckte Hand zeigte immer noch in Matthews Richtung, obwohl die Länge der Wartezeit schon fast ein wenig peinlich war. „Aber wenn du einschlägst, dann solltest du das auch so meinen“, fuhr er fort. „Ein Handschlag – das ist ein bindender Vertrag zwischen Ehrenmännern.“

   „Ehrenmänner?“, wiederholte Matthew heiser. Charles nickte.

   „Natürlich.“

   „Sie sehen in mir einen Ehrenmann?“

   „Warum nicht?“

   Jetzt näherte sich die schwarze Hand zaghaft der ausgestreckten weißen – und schlug ein. Charles’ Züge entspannten sich ein wenig. Es wäre doch ein übler Gesichtsverlust gewesen, wenn ihm ein Sklave den Handschlag verweigert hätte. Er war zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs. Er hatte eine alte Schuld beglichen, die ihn tatsächlich gedrückt hatte, er hatte einen Todfeind weniger, und er konnte nicht sehen, dass sein Ansehen unter den Sklaven gelitten hätte – trotz der schonungslosen Selbstbezichtigung. Er verströmte, selbst wenn er um Verzeihung bat, so viel Autorität, dass es zu keinem Zeitpunkt demütigend wirkte. Auf den Gesichtern der Umstehenden spiegelte sich der Ausdruck tiefster Zufriedenheit, ja sogar Freude. Eine Aussöhnung zwischen Matthew und ihrem Herrn – das passte in das neue Bild, das sie von Eastbourne Castle bekamen: einem Ort, wo es allmählich wieder Spaß machte zu leben.

   Der schwarze und der weiße Mann maßen sich immer noch mit Blicken, doch hatte keiner mehr Schwierigkeiten, dem anderen standzuhalten. Fronten waren geklärt, offene Wunden waren versorgt, eine verletzte Seele hatte Genugtuung erhalten – ein Heilungsprozess konnte beginnen, der zur absoluten Gesundung führen sollte – auf beiden Seiten. Charles wollte dazu beitragen, ihn zu beschleunigen.

   „Ich würde dir gerne einen Wunsch erfüllen, sozusagen um das Kriegsbeil ein für allemal zu begraben. Gibt es etwas, was du dir wünschst?“

   Matthew war auf dieses Angebot nicht gefasst. Hilflos zuckte er mit den Schultern.

   „Na, komm schon. Irgendwas wirst du dir doch wünschen! Wer weiß, wann solch ein Angebot wieder auf den Tisch kommt.“

   Matthew holte tief Luft. „Ich würde gerne den Blumenschmuck übernehmen bei Ihrer und Miss Miriams Hochzeit.“

   „Selbstverständlich. Gerne. Aber das ist doch ein Wunsch, von dem Miriam und ich profitieren. Ich möchte, dass du für dich selbst einen Wunsch benennst.“

   Der Junge zögerte einen langen Augenblick, dann sprach er ihn aus.

   „Ich würde gerne einmal reiten. Wie ein Herr.“

   „Du magst Pferde?“

   Matthew nickte nachdrücklich. „Sehr.“

   Charles überlegte keinen Moment.

   „Dann komm mal mit“, sagte er. „Ich glaube, das wird dir gefallen.“

   Er wollte sich gerade umdrehen, um den Raum zu verlassen, als eine massige Gestalt den Türrahmen ausfüllte. Josua erschien, die Augen düster und hasserfüllt auf Charles gerichtet. Seine beiden Hände hatte er in den Hosentaschen versenkt. Der Zeitpunkt zum Handeln war gekommen. Dieser unverfrorene, leichtsinnige Weiße war in ihre Sphäre eingedrungen, arrogant, unbesorgt, dass ihm irgendetwas widerfahren könnte. Josua würde ihn vom Gegenteil überzeugen.

   Ein Blick auf die Gesichter der anderen sagte ihm sehr schnell, dass er sich auf die nicht verlassen konnte. Da malte sich weder Wut noch Hass ab. Eher Sorge, die aber an seine Adresse ging. Was hatte er vor?

   Josua war entschlossen, zur Not die Sache allein durchzuziehen. Matthew und Zacharias würden sich schon auf seine Seite schlagen, wenn es so weit war. Er musste den Anfang machen. Vor allem aber wollte er sich nie wieder von einem unbewaffneten Weißen dermaßen lähmen lassen, wie das damals nach dem Tod der alten Thilda der Fall gewesen ist. Er hatte durch sein eigenes feiges Verhalten den falschen Mythos von der Überlegenheit der weißen Rasse bestätigt. Er hatte vor dem selbstsicheren Verhalten des Weißen gekuscht. Die Galle kam ihm immer noch hoch, wenn er daran dachte.

   Charles wollte den Raum verlassen, als Matthew wieselflink an ihm vorbeihuschte und vor seinem Herrn auf die Tür zuging. Er kam bis zu Josua, der ihm den Weg versperrte. Josuas Augen bohrten sich in die Matthews, ließen keinen Zweifel über seine Absichten. Matthews Blick flackerte keinen Moment. Er zeigte eine mutige Entschlossenheit, die Josua zuerst fehlinterpretierte. Doch dann merkte er, dass der Zorn in den Augen des Jungen ihm galt. „Lass mich durch!“, zischte er kaum hörbar durch die Zähne. Doch mutig ging Matthew weiter, bis es zu einem Körperkontakt mit dem anderen kam, der partout nicht weichen wollte. Es sah für den Unbeteiligten aus, als stünde man sich zufällig unbeabsichtigt im Weg. Unnachgiebig setzte der junge Schwarze Schritt für Schritt seinen Weg fort, zwang den anderen zurückzuweichen und schaffte Platz, dass Charles ungehindert aus der Tür treten konnte. Er spürte Zacharias an seiner Seite, der ebenfalls durch eine unaufhaltsame Vorwärtsbewegung Josua in die Defensive brachte und seine Rückwärtsbewegung erzwang.

   Josua verstand. Nicht nur, dass diese beiden Verräter ihm nicht helfen würden – sie verhinderten auch noch die Tat, die ihnen doch allen die Freiheit bringen könnte. Kapierten diese hündischen Naturen nicht, welche Chance sich ihnen bot? Freiheit – wenn sie es denn schaffen konnten, sich gegen die paar Weiße durchzusetzen, was im Bereich des Möglichen war. Die meisten waren noch auf den Weiden. Rache – wenn es ihnen gelänge, diesem großen Kerl die Kehle durchzuschneiden. Rache für die große Demütigung, die in ihrer Verknechtung bestand. Welch ungeheures Potenzial an ausgleichender Gerechtigkeit bot sich ihnen hier – und sie nutzten es nicht!

   Das tödliche Messer blieb in Josuas Tasche. Matthew und Zacharias deckten mit ihren Leibern den Körper ihres Herrn ab. Er hätte einen von ihnen niederstechen müssen, um an Charles heranzukommen. Angewidert spuckte der Schwarze aus, stieß einen üblen Fluch zwischen den Zähnen hervor und gab den Weg frei.

   Charles überlegte, ob er die beiden tadeln sollte, weil sie vor ihm den Raum verlassen hatten, was entgegen jeder Schicklichkeit war, was die unantastbare Hierarchie zwischen Herr und Diener dreist unterlief, doch er unterließ es. Er wollte die neu aufkeimende Entspannung zwischen ihnen nicht durch Kleinlichkeiten belasten.

   Er tat gut daran, denn der Beitrag, den die beiden anderen zu diesem Neubeginn geleistet hatten, war vergleichsweise unverhältnismäßig viel größer.

   Charles hatte keine Ahnung, dass Matthew und Zacharias ihm soeben das Leben gerettet hatten.

*

   Sie kamen bei den Ställen an. Längst hatte sich der Tross, der Charles und Matthew folgte, um den Rest des gesamten Sklavenbestandes vergrößert, lediglich Josua fehlte. Zu unbezähmbar war die Neugier, die sie gepackt hatte. Flüsternd machte es die Runde, welches Anliegen ihren Herrn in die Sklavenhütten geführt hatte und beredte Blicke kommentierten die erneute Ungeheuerlichkeit. Ihr Master war zu einer unberechenbaren Größe geworden. Doch solange diese Erstaunlichkeiten sich in so angenehmen Rahmen bewegten, so lange wollte man sich nicht beschweren.

   Red Culver kam aus den Ställen und staunte nicht schlecht über den seltsamen Aufzug an Hauptdarstellern und Publikum.

   „Matthew, das ist Red Culver. Er kümmert sich um unsere Pferde“, stellte Charles vor, als ob das völlig neu für Matthew wäre. „Ich habe den Eindruck, Red, dass dich die Arbeit hier doch ziemlich fordert. Hab ich recht?“

   Das tat sie eigentlich kein bisschen, und Culver war sich nicht sicher, ob in dieser Frage nicht ein versteckter Vorwurf lag, er würde seine Arbeit nicht ordentlich erledigen. Er hatte nicht die leiseste Idee, was das ganze Theater hier sollte und was jetzt die angemessene Antwort war. Aber es gab Fragen, auf die nur eine einzige Antwort passte. Und wenn der Herr dieses Schlosses schon seine Meinung in feste Formulierungen gepackt hatte, dann gab es nur noch die Möglichkeit, sie zu bestätigen. So waren nun mal die Spielregeln.

   „Ja, Sir. Ist ‚ne Menge.“

   „Siehst du?“ Die Bestätigung schien Charles zutiefst zu befriedigen. „Deshalb werde ich dir eine Hilfe an die Hand geben. Das hier ist Matthew. Er mag Pferde und wird dir ab sofort bei der Arbeit helfen. Wir haben derzeit mehr als genug Leute, die sich um die Felder kümmern. Ist das ein Wort?“

   Die Frage galt Matthew und war eigentlich so überflüssig wie ein Kropf. Die Augen des Schwarzen strahlten. Aber Charles war noch nicht fertig.

   „Wie geht es Tennessee Lady?“, fragte er Culver. „Kann sie noch geritten werden?“

   „Sicher, Sir. Aber man sollte sie nicht mehr so sehr fordern.“

   „Hol sie her!“

   Tennessee Lady war seine Stute, die ihn jahrelang durch dick und dünn getragen hatte. Eine Verletzung am linken Hinterlauf, eine Knochenabsplitterung, hatte sie monatelang außer Gefecht gesetzt und Charles dazu gezwungen, sich für ein anderes Pferd zu ent­scheiden. Doch er hätte es nie übers Herz gebracht, das Pferd zu erschießen. Zu viel verband ihn mit dem treuen Tier, das nun schon über zwanzig Jahre alt war.

   Als Culver die Stute herbrachte, gab es ihm einen Stich ins Herz. Er erinnerte sich wieder daran, wie das pfeilschnelle Tier mit dem Wind um die Wette gelaufen war, um ihn aus einem Kampfgetümmel herauszubringen, einem üblen Hinterhalt, der vier von Finns Männern das Leben gekostet hatte, die nicht das Glück hatten, ein solch edles Tier unterm Sattel zu haben. Das würde er der Stute nie vergessen, hatte er sich damals geschworen. Ein Schwur, der vergessen wurde, wie so viele andere wichtige Dinge, die ihre Gewichtung verloren, als andere Wichtigkeiten ihren Raum einnahmen.

   „Na, altes Mädchen, wie geht’s denn so?“, fragte er leise und kraulte sie hinter den Ohren. Das mochte sie besonders gern. Die Stute senkte den Kopf und ließ sich die Liebkosung gern gefallen. Mit geblähten Nüstern sog sie den seinerzeit so vertrauten, aber dann in Vergessenheit geratenen Geruch ihres Herrn ein. Charles ließ sich ausgiebig Zeit sie zu streicheln und tätschelte ihr den Hals.

   „Ich brauche dringend jemanden, der sich um dieses edle Tier hier kümmert“, erklärte Charles kategorisch. Culver fiel vor Erstaunen die Kinnlade runter. Seit acht Jahren war es ihm herzlich egal gewesen, was mit dem Tier passierte und jetzt rutschte die Betreuung der alten Pferdedame in der Prioritätenliste ganz nach oben! Aber es war ohnehin der Tag der Überraschungen, und da wollte er sich über nichts mehr wundern. Wer konnte schon ahnen, was in diesen hochherrschaftlichen Köpfen vor sich ging!

   „Was ist? Willst du mal aufsteigen?“, fragte er Matthew. Ein Leuchten ging über dessen Gesicht, und er nickte. Seine Stimmwerkzeuge waren ganz offenbar derzeit nicht einsatzbereit.

   Culver half dem Schwarzen beim Aufsteigen auf den bloßen Pferderücken. Charles drückte ihm den Führstrick in die Hand und dann führte Culver Pferd und Reiter im Hof einige Runden im Kreis. Endlich löste sich der Bann, der die ganze Zeit über der Szenerie gelegen hatte, diese gespannte Erwartung, ob sich dies alles nicht doch noch als ein übler Schwindel herausstellen könnte, als das Aufwachen aus einem schönen Traum, der eine lebenswerte Welt zum Thema hatte.

   Jacob war der erste, der applaudierte. Und dann entlud sich die Begeisterung der anderen über das Glück, das Matthew hier widerfuhr, in einem wilden Klatschen, in anfeuernden Rufen, die sich in einen skandierenden Singsang fortführten und fast zwangsläufig in rhythmischen Tänzen endeten. Matthew saß immer noch auf dem Pferderücken, das schwarze Gesicht war ein einziges Strahlen, und glücklich kraulte er die Mähne der alten Stute. Er würde dafür sorgen, dass sie einen schönen Lebensabend bekäme.

   Charles zog sich unauffällig zurück.

   Ein guter Tag!

 

 

 

 

   Leseprobe 2

 

Charles fährt mit Miriam nach Asheville und verbringt mit ihr einen herrlichen Nachmittag in den Smoky Mountains, bevor sie wieder in die Stadt zurückkehren. Hier eröffnet er seinen alten Freunden, dass er Miriam heiraten wird.

 

   „Und du willst wirklich keinen Wein?“

   „Nein, wirklich nicht. Ich bleibe beim Wasser. Du weißt, ich bin schwanger.“

   „Ich weiß nur, dass du glaubst schwanger zu sein. Abwarten, bis wir das genau wissen.“

   Er lag neben ihr auf dem Rücken. Ein Tuch, über seine Lenden gelegt, schützte die edlen Teile vor dem Sonnenbrand.

   „Und wenn ich dir sage, dass meine Monatsregel seit fünf Tagen überfällig ist, überzeugt dich das?“

   Ruckartig setzte er sich auf. „Ist das wahr? Warum sagst du mir das nicht?“

   „Ich sage es dir schon seit vier Wochen. Aber du glaubst mir ja nicht!“

   Sein Gesicht war ein einziges Strahlen. „Miriam, sag das noch mal!“, sagte er, atemlos vor Erregung. „Deine Regel ist wirklich ausgeblieben?“

   „Aber ja. Seit fünf Tagen.“

   „Aber das wäre ja schon fast...wie eine Gewissheit!“ Doch wenn Dinge zu schön sind, um wahr zu sein, dann will man es doch noch einmal genau wissen.

   „Bist du wirklich sicher? Nicht der Hauch eines Zweifels?“

   Sie streichelte sein Gesicht, in dem sich eine unbändige Freude widerspiegelte. Er war außer sich.

   „Ich wundere mich, dass du dich wunderst. Du hast viel zu wenig Vertrauen zu mir.“

   „Ja. Sieht so aus, als ob du immer recht hättest.“

   „Ich habe doch nur in den Fällen recht, wo du nicht an das Schöne und Gute glaubst. Du bist ein großer Pessimist. Du traust dem Glück zu wenig. Dann komme ich und sage dir, dass es anders ist. Und nur dann habe ich recht.“

   Miriam hatte mit ihrer klugen Beobachtungsgabe wieder einmal den Finger auf die richtige Stelle gelegt. In einer ganz weit entlegenen Ecke, verborgen in den verschlungensten Winkeln seines Hinterkopfes, gab es immer noch diese böse Stimme, die ihm einflüsterte, dass er kein Anrecht auf Glück hätte, dass jeder Glücksmoment nur ein geborgter war, der unwiderruflich einen Fluch, ein Unglück nach sich ziehen musste.

   Doch ein Blick auf das Mädchen neben ihm, das sich an seiner Freude weidete, verscheuchte die unglückselige Stimme. Sie hatte keine Chance gegen diese Frau neben ihm, die das personifizierte Glück zu sein schien. Er ließ sich wie ermattet auf den Rücken fallen und flüsterte, immer noch fassungslos:

   „Ich werde Vater. Wir werden ein Kind haben!“

   Doch wie unter einem plötzlichen Einfall setzte er sich wieder auf. Auf die Frage wollte er eine klare Antwort haben.

   „Und du? Freust du dich auch?“

   Eigentlich lag die Antwort in der Luft, in dieser glasklaren, paradiesischen Luft. Aber er wollte sie hören, deutlich und unwiderruflich ausgesprochen. Sie war in der Tat ganz in seinem Sinne.

   „Wie sollte ich nicht? Der Vater dieses Kindes ist der Mann, den ich liebe. Gezeugt in einer wundervollen Nacht. Wie sollte ich mich da nicht freuen?“

   „Was meinst du? Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“

   Miriam lachte. „Ich fürchte, da muss ich passen. Das kann ich nun wirklich nicht wissen.“

   „Du enttäuschst mich“, kam sein Kommentar. Wieder legte er sich ins Gras zurück, den Kopf bequem auf seine verschränkten Arme gebettet. „Sowas weiß man doch, wenn man so begabt ist wie du.“

   Miriam schüttelte den Kopf.

   „Du bist einfach unmöglich, Charles Eastbourne. In einem Augenblick traust du noch nicht einmal meinen sichersten Gefühlen und nur einen Wimpernschlag später verlangst du, dass ich Unmögliches wissen soll.“

   Er nickte, immer noch glückselig.

   „Genauso bin ich. Einfach unmöglich. Ein einfach unmöglicher werdender Vater! Ich fass es immer noch nicht. Ein kleiner Eastbourne ist unterwegs.“

   Ein neuer Gedanke kam ihm, und er setzte sich wieder auf.

   „Wir sollten unbedingt schon mal eine Strategie entwickeln, wie wir ihn erziehen.“

   „Strategie entwickeln? Befinden wir uns im Krieg?“

   „Du hast recht. Der Ausdruck ist vielleicht missverständlich. Wie wär’s mit ‚Taktik’?“

   Miriam lachte. „Wollen wir den Kleinen überlisten?“

   „Herrje! Lass uns doch nicht um Worte streiten. Du weißt, was ich meine. Es geht um die Erziehung unseres Sohnes.“

   „Das ist acht Monate vor der Geburt gerade der richtige Zeitpunkt. Vor allem, wenn wir noch nicht einmal wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.“

   Charles war nicht aus dem Tritt zu bringen.

   „Dann entwerfen wir einfach zwei alternative Pläne. Dann sind wir auf der sicheren Seite.“

   Miriam amüsierte sich über seinen Eifer. Er war in einer herrlich euphorischen Stimmung.

   „Und wenn wir einfach warten, bis wir genau wissen, was es wird?“

   Er spielte den Beunruhigten. „Glaubst du nicht, dass das viel zu spät sein wird?“

   Miriams Hand glitt liebkosend über seinen stattlichen Oberkörper. Sie empfand es immer noch als ein großes Glück, ihn jederzeit berühren zu können, ihm all die Zärtlichkeit geben zu können, die sie in der Vergangenheit hatte unterdrücken müssen.

   „So wie es aussieht, willst du schon vom ersten Atemzug an mit dem Erziehen anfangen?“

   „Muss man das denn nicht? Stell dir vor, da läuft was aus dem Ruder.“

   Miriam wurde allmählich aufmerksam. Sie war sich nicht mehr sicher, wie groß der Anteil an Scherz war. Charles meinte das, was er sagte, vielleicht ernster als sie dachte.

   „Was soll denn aus dem Ruder laufen? Vielleicht dass dein Sohn seine eigenen Vorstellungen von einem glücklichen Leben hat?“

   „Er ist ein Eastbourne“, erklärte Charles, als ob das die Antwort auf die Frage war. Miriam hakte nach:

   „Und was bedeutet das?“

   „Nun, dass er ein weiteres Glied in einer Kette ist, in der der Name und die Werte unseres Geschlechts aufrecht erhalten werden“, antwortete er mit einer Würde, die sie amüsierte.

   „Meinst du etwa die Werte, mit denen du gerade gründlich gebrochen hast? Zum Beispiel indem du mich heiratest? Ich erinnere mich noch gut daran, es ist schließlich noch nicht so lange her, da hast du nachdrücklich darauf bestanden, die Werte für dein Leben selbst festzulegen. Wirst du deinem Sohn dieses Recht absprechen?“

   Charles antwortete nicht sofort. Er knabberte an einer Logik, die ihm nicht so recht gefallen wollte. Sein Sohn und eigene Lebensplanungen? Vielleicht sogar solche, die mit Eastbourne Castle nichts zu tun hatten? Da musste man doch dagegen halten. Oder nicht?

   Miriam mit ihrem verflixten gesunden Menschenverstand! Die Diskussionen mit ihr waren nie einfach. Selbst dann nicht, wenn man entspannt im Gras lag und soeben einen tiefen Blick ins Paradies geworfen hatte.

   „Aber ein wenig in die richtige Richtung lenken – das muss doch wohl erlaubt sein! Ich finde es wichtig, dass er was Anständiges lernt. Er soll nicht so hohlköpfig ins Leben stolpern wie ich.“

   Miriam strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

   „Hat dein Vater keine Pläne für dich gemacht?“

   Er verhärtete sich unmerklich. „Meinem Vater war es völlig egal, was aus mir wird. Er hat einen teuren Lehrer für mich bezahlt. War wirklich ein guter Mann. Und den Rest hat Winston besorgt. Bei soviel Zuwendung war er als Vater entbehrlich.“

   Miriam verstand. „Das hat sicher wehgetan. Ich verstehe, dass du dich vor den gleichen Fehlern hüten willst. Aber zuviel zu tun ist genauso gefährlich wie gar nichts zu tun.“

Charles war immer noch eingesponnen in seine Pläne, seinem noch ungeborenen Sohn eine strahlende Zukunft zu erschaffen.

   „Was hältst du davon, wenn wir ihn in Boston studieren lassen? Cambridge und Harvard haben einen ausgezeichneten Ruf.“

   „Bist du schon wieder dabei, ihn zu verplanen?“ Miriams Zeigefinger zeichnete zärtlich die Konturen seines Gesichtes nach.

   „Aber nein. Nicht im Geringsten. Ich überlasse es ganz ihm, ob er Jahrgangsbester in Jura oder in Medizin werden wird.“

   Miriam musste lachen. Er war einfach unverbesserlich. „Wie großzügig du bist!“

   Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn leicht auf die Wangen. Sofort schien ihm jedes Problem wieder lösbar. Wenn sie an seiner Seite war, dann fühlte er sich jeder Situation gewachsen. Sie unterbreitete ihren Vorschlag.

   „Weißt du, was wir tun werden? Wir werden ihm vom ersten Tag seiner Geburt an all unsere Liebe schenken. Dann werden wir sehen, wie er sich sein Leben vorstellt. Und wenn wir wirklich gute Eltern sind, dann werden wir ihm helfen, das umzusetzen, was er sich vom Leben erwartet. Das ist besser, als wenn wir all unsere Kraft darauf verschwenden und ihn zu etwas zwingen, was er gar nicht will. Was hältst du von dieser Strategie?“

   Er genehmigte sich noch einen Schluck Wein. „Ach, so funktioniert das! Das muss einem doch mal gesagt werden. Gut, dass wir drüber gesprochen haben!“

   Miriam lachte und nippte an ihrem Wasser. Doch er war noch nicht fertig mit seiner Besorgnis.

   „Wie sollen wir denn damit umgehen, wenn ihm Eastbourne Castle nichts bedeutet? Das Anwesen muss doch kompetent verwaltet werden.“

   Aber Miriam hatte auch dafür eine Lösung parat.

   „Es muss doch nicht unbedingt der Erstgeborene sein, der sich um das Herrenhaus kümmert.“

   Er dachte den Gedanken weiter. „Du meinst, wir sollten einen ganzen Stall voll Eastbournes in die Welt setzen? Irgendwas Brauchbares wird dann schon drunter sein?“

   Sie lachte laut auf. „Na, ganz so hätte ich es nicht ausgedrückt. Aber sinngemäß kommt das hin. Es würde allerdings bedeuten, dass du schon wieder mit einer Regel brechen müsstest, zum Beispiel, dass nicht unbedingt der Erstgeborene die Nachfolge übernimmt.“

   Er streichelte sachte über ihren flachen Bauch, wo ein kleiner Eastbourne heranwuchs, der keine Ahnung hatte, dass seine Zukunft Gegenstand eines heiteren Gesprächs war.

   „Du weißt doch, dass ich ein begnadeter Regelbrecher bin“, sagte er und sein linker Mundwinkel zuckte amüsiert hoch, was Miriam immer wieder faszinierte.

   „Spürst du schon etwas? Man kann noch gar nichts sehen.“

   „Nun sei doch nicht so ungeduldig! Das wird noch Wochen dauern, bis man etwas sehen kann. Und dann? Wenn ich anfange unförmig zu werden? Wirst du mich dann nicht mehr mit diesem verlangenden Blick ansehen?“

(…)

   „Du wirst schöner denn je sein, wenn du Mutter wirst und wenn dein Leib sich wölbt. Glaub mir, ich werde dich umso mehr lieben dafür.“

   Ein Kuss besiegelte das Versprechen, und seine Hand fuhr fort, ihren Bauch zu streicheln, als wollte er das Ungeborene durch die Bauchdecke hindurch liebkosen. Miriam glaubte ihm jedes Wort.

   „Versprich mir, dass du ab jetzt ganz vorsichtig sein wirst. Keine Arbeiten mehr, nichts mehr heben. Du musst dich ganz ruhig verhalten.“

   Sie schüttelte amüsiert den Kopf.

   „Charles, hör auf damit! Ich bin schwanger, nicht krank oder behindert. Ich werde ganz normal meine Arbeit tun. Das tun wir Frauen schon seit Generationen. Ich werde weiter Mammy und Ann im Schloss helfen. Das ist das Beste, was ich tun kann.“

   „Dann versprich mir wenigstens, dass du auf der Treppe aufpasst. Wenn du stürzt, dann kann alles vorbei sein.“

   Sein ungewohnt erster Ton machte sie aufmerksam. Er meinte es wirklich ernst.

(…)

   „Wovor hast du Angst?“, fragte sie.

   Er zuckte die Achseln. „Ich habe Angst, dass wir uns zu früh freuen. Es sind noch acht Monate. Da kann viel passieren. Und das Schlimme an diesem verdammten Glück ist, dass es nie von Dauer ist.“

   Der Wechsel von der herrlichen Euphorie hin zu dieser ernsten Stimmung befremdete sie. Die übermütige Fröhlichkeit war wie weggeblasen. Ein kühler Windhauch wehte durch ihr kleines Paradies.

   „Es gibt keinen Grund, dir Sorgen zu machen. Du wirst sehen, alles wird gut, und ich habe schon wieder recht gehabt. Du nimmst dir mit diesen unnötigen Gedanken selbst das Schönste an der ganzen Sache: die Vorfreude. Du darfst nicht immer mit dem Schlimmsten rechnen. Das ist nicht ungefährlich.“

   „Wie kommst du darauf, dass das gefährlich sein könnte?“

   Miriam überlegte einen Moment lang, ob sie den ungewöhnlichen Gedanken aussprechen sollte. Er war ein Verstandesmensch, realistisch, mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehend und unbeeindruckt von all den Dingen, die man mit dem Verstand nicht erfassen konnte. Ausflüge in das Reich des Nicht-Erklärbaren bereiteten ihm Unbehagen. Doch Miriam wusste, dass er sie ernst nahm und dass er ihren mitunter ungewöhnlichen Ausführungen aufmerksam folgte.

   „Du darfst die Macht deiner Gedanken nicht unterschätzen“, sagte sie vorsichtig. „Wenn du immer nur an Unglück denkst, dann kann es dir passieren, dass du das Unglück anziehst.“

   Er schaute sie ungläubig an. „Sowas glaubst du wirklich? Wie soll denn das funktionieren?“

   „Ich habe keine Ahnung“, bekannte Miriam. „Aber dass ich nicht weiß, wie es funktioniert, ist nicht der Beweis dafür, dass es das nicht gibt. Wir können so viele Dinge nicht erklären, und trotzdem existieren sie.“

(…)

   „Dich an meiner Seite zu haben, ist einfach der Himmel. Soviel Glück habe ich gar nicht verdient.“

   „Schon wieder ein negativer Gedanke“, tadelte Miriam.

   „Was denn? Ist es negativ sich zu freuen, dass du an meiner Seite bist?“

   „Nein“, sagte Miriam. „Das geht schon in Ordnung. Aber zu glauben, dass du es nicht verdient hast, ist nicht gut. Warum bist du nur so misstrauisch? Die Welt liegt dir doch zu Füßen. Nimm dir alles davon, was gut für dich ist.“

   „Du bist gut für mich. Dich nehme ich“, entschied er, gut gelaunt.

   „Kannst du haben, Charly.“

   Sie imitierte Eileen Bannisters verführerischen Schmelz in der Stimme, als sie seinen Kosenamen aussprach.

   „Miriam. Hör sofort auf mit dem Unsinn. Ich verspreche dir, ich leg dich übers Knie, wenn du mich nochmals so nennst.“

   Sie lachte. „Du willst also die werdende Mutter deines Nachwuchses verprügeln?“

   „Stimmt ja. Geht ja gar nicht. Damit werde ich wohl noch acht Monate warten müssen.“

   „Gut zu wissen, dass ich so lange Narrenfreiheit habe“, sagte sie. Ihr Daumen streichelte zärtlich die gut verheilte Narbe an seiner Schulter. Damit hatte alles angefangen. „Was stimmt nicht mit diesem Namen? Er ist doch eine gängige Abkürzung.“

   „Dieser Name gehört in eine andere Zeit. In eine andere Welt“, sagte er, ohne die Sache vertiefen zu wollen. Seine Mutter war die einzige, die ihn so genannt hatte, bevor sie aus seinem Leben verschwand. Zuerst durch ihre Depressionen, dann endgültig. Miriam wollte gar nicht erst Bedrückung aufkommen lassen. Sie wusste, was ihm gut tat.

   „Leg dich auf den Bauch“, befahl sie. „Ich massiere dir den Rücken.“

   „Wow! Da sag ich nicht nein. Ich verspreche dir auch, in Zukunft keine pessimistischen Gedanken mehr zu haben.“

   „Und ich verspreche dir, bei der Treppe vorsichtig zu sein.“

*

   Er drehte sich in die Bauchlage, und sie setzte sich rittlings auf seinen Rücken. Mit Hingebung begann sie seinen Rücken zu massieren. Er war völlig entspannt und duldete es gerne, dass sie seine Muskulatur lockerte und mit präzisen Handgriffen seine Verspannungen löste. Ihre Gespräche hatten wieder zu ihrer anfänglichen Heiterkeit zurückgefunden, denn mehrfach lachte sie laut auf, und auch er schien in ausgelassener Stimmung zu sein. Allmählich veränderte sich die Massagetechnik des Mädchens. Die Muskulatur war zu ihrer Zufriedenheit gelockert – jetzt kam die Zugabe. Ihre Hände waren eindeutig nicht mehr auf der Suche nach möglichen Verspannungen. Sie begannen seine Schultern zu streicheln, erreichten den Nacken und setzten dort ihr Werk fort, wo sie wusste, dass Reaktionen nicht auf sich warten lassen würden. Sie beugte sich zu ihm nieder, und ihre Lippen und ihre Zunge unterstützten die Arbeit der Hände. Die langen, schwarzen Haare und die Spitzen ihrer Brüste strichen dabei über seine Haut.

   Es dauerte nicht lange, und mit der gelösten Entspannung war es vorbei. Er drehte sich unter ihr um und lag nun auf dem Rücken. Sie lachte, als sie die Bescherung sah. Aber sie war auch gerne bereit, die Suppe auszulöffeln, die sie sich eingebrockt hatte. Vorsichtig nahm sie seine Männlichkeit in sich auf und bestimmte langsam und genussvoll den Rhythmus. Sie wusste, dass Charles ihren Körper liebte – er sollte auf seine Kosten kommen. Hoch richtete sie sich auf, verschränkte die Arme in ihrem Nacken und präsentierte ihren Körper in seiner ganzen Perfektion.

   Charles legte seine Hände auf ihre Hüften und konnte sich nicht satt sehen an dem Schauspiel über ihm. Ihre Augen waren geschlossen, er schien nicht mehr zu existieren. Sie war entrückt, schien wegzufliegen und war doch fest mit ihm verbunden.

   Allmählich beschleunigte sich der Rhythmus ihrer Hüften, wurde schneller, fordernder. Nun flog ihr Atmen, kaum nahm sie das Stöhnen unter ihr wahr, das zeigte, dass er am Ziel seiner Wünsche angekommen war. Ein triumphierender Laut übertönte das Plätschern des Wasserfalls, dann fiel all ihre Körperspannung in sich zusammen, und sie sank erschöpft auf ihn nieder. Seine Arme umfingen sie, hießen sie willkommen wieder auf der Erde und holten sie in die Realität zurück. Ihre Lippen fanden sich und beendeten den Ausflug ins Paradies wie sie ihn begonnen hatten: mit einem langen Kuss.

 *


   Jedes Paradies hat seine Schlange, so auch das von Charles und Miriam. Aber diese hier hatte keinen Apfel als Requisite, sondern kaute missmutig auf einer kalten Zigarre herum. Henry Bannister war in einer miserablen Stimmung, schwitzte in der heißen Nach-mittagssonne und verströmte einen unangenehmen Körpergeruch.

   Unüblich und nicht konform mit dem biblischen Original war die Anwesenheit einer zweiten Schlange. Ben Perret saß neben Bannister hinter einem dichten Gebüsch, gerade mal fünfzig Yard vom Schauplatz der Ereignisse entfernt, und wunderte sich über dessen vergrätzte Stimmung. Die Show, die sie genossen hatten, war doch perfekt gewesen!

   Charles’ Befürchtung, verfolgt zu werden, war so falsch nicht gewesen. Der Denkfehler bestand darin, dass er seine Verfolger hinter sich glaubte. Doch Bannister, der seinen alten Kumpel gut genug kannte, hatte seine Absichten geahnt, als er Charles’ Plan aufschnappte, Miriam die Gegend zu zeigen. Was gab’s hier in Asheville schon zu sehen, was man einer Sklavin zeigen wollte! Er kannte die Stelle im Wald aus gemeinsamen vergangenen Unternehmungen und auch die Abkürzung durch die kleine Furt, für eine Kutsche unpassierbar, für einen Reiter aber kein Problem. Das bescherte ihnen einen komfortablen Vorsprung von einer guten halben Stunde, in der man sich ein gemütliches Versteck mit freier Sicht auf die Lichtung und einen sicheren Platz für die Pferde suchen konnte.

   Als die Kutsche auf die Lichtung einfuhr, triumphierte er. Dass Eastbourne und die schöne Sklavin nicht hier waren, um Blumen zu pflücken, war ihm klar. Der Plan war, mitten im schönsten Moment aus dem Versteck zu treten, sich an der Verlegenheit der beiden zu weiden und dann vielleicht einen schönen Nachmittag zu viert zu verbringen. Männlich-herbe Scherze dieser Art waren durchaus das Niveau, auf dem man sich seinerzeit vergnügt hatte.

   Doch der ideale Moment, um aus dem Gebüsch zu treten, wollte sich nicht einstellen. Das lag nicht nur daran, dass er sich rechtzeitig daran erinnerte, dass Scherze, die auf Eastbournes Kosten gingen, nicht ungefährlich waren. Da konnte die Reaktion auch ein gut platzierter Kinnhaken sein, der ihn längelang ins paradiesische Gras geschickt hätte. Er hatte ohnehin eine seltsam distanzierte Haltung ihm gegenüber an den Tag gelegt.

   Doch noch entscheidender war, dass ihn das Schauspiel, das sich ihm hier bot, in einer Weise faszinierte, der er sich nicht entziehen konnte. Der männlich-athletische Körper des hochgewachsenen Mannes, an dem kein Gramm Fett zu finden war, führte ihm wieder neidvoll seine eigenen körperlichen Defizite vor Augen. Er beglückwünschte sich, dass nicht noch eine dritte Schlange im Gebüsch gelauert hatte: Wenn Eileen diesem Schauspiel beigewohnt hätte – sie wäre wohl mit Haut und Haaren über Charles hergefallen. Er kannte sehr wohl die Leidenschaft seiner Frau für diesen Mann, an dem gemessen zu werden er verdammt war. Aber da seine Gefühle für Eileen ohnehin eine große Nebensächlichkeit waren, so konnte er damit leben und die nicht ganz zu unterdrückende Eifersucht in Grenzen halten.

   Als Mann war er natürlich auch voll konzentriert auf die weibliche Hauptfigur. Der makellose Körper des Mädchens, die grazile Anmut ihrer Bewegungen waren eine Augenweide. Sie war wirklich eine schöne Frau. Aber die eigentliche Faszination lag in etwas anderem. Da war eine wundervolle Innigkeit im Spiel, als sich die beiden liebten, eine herrliche Freiwilligkeit, mit der sie alles taten, um dem anderen Lust zu bereiten. Der Gedanke an ihren ekstatischen Gesichtsausdruck, als sie auf ihm ritt, ließ ihn nicht mehr los. Kein Zweifel – sie war auch auf ihre Kosten gekommen. Er hatte nicht die Befriedigung des Mannes durch eine in Liebesdingen geschickte Sklavin miterlebt, sondern einen Liebesakt, der seine Vollkommenheit in einem ausgewogenen Verhältnis von Geben und Nehmen bezog. Wie, zum Teufel, war Eastbourne an dieses unglaubliche Weib geraten?

   Er ließ seine miese Laune an seinem Pferd aus, traktierte es mit Peitschenhieben und zwang es zu einem Tempo, das keine Rechtfertigung hatte. Sie würden mit der Abkürzung durch die Furt lange vor der Kutsche ankommen.

   Das Liebesspiel der beiden hatte ihm seine eigene Unzulänglichkeit mehr als deutlich vor Augen geführt. Den Beischlaf mit seiner eigenen Frau hatte er seit einiger Zeit schon eingestellt, als ihm klar wurde, dass sie nur mühsam ein mokantes Lachen unterdrücken konnte, wenn er sich über ihr abmühte, oft genug nur mit mäßigem, später ohne jeden Erfolg. Seine Alternative, der Gang zu Mme. Gargots Freudenmädchen, wurde auch von mal zu mal problematischer. Der erhoffte Erfolg war schließlich nur noch möglich, wenn er zu perversen Methoden griff, die in der Regel die Erniedrigung der Frau bedeuteten. Das führte dazu, dass sich die Mädchen immer öfter weigerten, mit ihm auf ihr Zimmer zu gehen. Die Summen, die er hinblättern musste, wurden allmählich beträchtlich. Der Aderlass an Geld störte ihn dabei weniger, er hatte Geld im Überfluss. Aber dass es überhaupt zu diesem unwürdigen Feilschen kam, mit der Möglichkeit, dass er sogar abgelehnt wurde, das ärgerte ihn maßlos. Am liebsten vergnügte er sich in den Freudenhäusern von Atlanta oder Charleston – weit weg von Asheville und einem möglichen dummen Gerede. Wenn man überhaupt von ‚Vergnügen’ sprechen konnte!

   Der Nachmittag hinter dem paradiesischen Gebüsch hatte ihm nochmals vor Augen geführt, wie die körperliche Ausprägung einer wirklichen Liebe aussah. Seine Lieblingsbeschäftigung, die Vermehrung von Geld, verblasste vor dem Hintergrund des Erlebten zu einem höchst fragwürdigen Lebensinhalt. Eastbourne hatte, wieder einmal! den deutlich besseren Part erwischt.

   Voller Wut knallte er dem unschuldigen Pferd die Sporen in die Flanken.

*

   Als Charles und Miriam wieder in Asheville ankamen, neigte sich der Tag bereits dem Ende zu. Richard und Ann waren noch nicht angekommen. Charles hielt die Kutsche vor Perrets Stall an und befahl dem Jungen, das Pferd auszuspannen und zu versorgen. Miriam blieb in der Kutsche sitzen. Ihrer Miene war anzumerken, dass sie es nicht eilig hatte, wieder in Perrets Saloon zu kommen, der erkennbar noch genauso überfüllt war wie am Nachmittag. Charles ahnte, was in ihr vorging.

   „Nur Mut, Liebes. Da gehen wir jetzt hoch erhobenen Hauptes durch. Denk immer daran: Die alle hier zählen nicht.“

   „Ich weiß“, sagte Miriam. „Aber trotzdem bin ich froh, wenn Ann und Richard kommen.“

   Er half ihr vom Wagen. Als sie den Saloon betraten, zeigte sich, dass der Teufel, der den Schnaps erfunden hat, ganze Arbeit geleistet hatte. Durch den Alkoholkonsum war die Stimmung deutlich gehoben. Die Angebote an Charles’ Adresse flogen locker durch den Raum.

   „Komm schon, Eastbourne. Lass uns einen Whiskey trinken. Auf die alten Zeiten. Und dann erzähl uns endlich, wie das mit Miles war!“ Die Aufforderung kam, inhaltsgleich, von mehreren Seiten.

   „Später“, antwortete Charles knapp und bahnte sich einen Weg durch die Menge, hin zu dem einzigen Gesicht, das er wirklich ertragen konnte und dem auch Miriam energisch zustrebte: Am Ende der Bar, abseits von den Gesprächen, stand Mike und vergnügte sich mit einem Glas Bier. Er zwinkerte Miriam zu, als er sah, wie eilig sie es hatte, zu ihm zu kommen. Er küsste sie leicht auf beide Wangen und avancierte in Windeseile zum neuen Mittelpunkt des Interesses der Asheviller, die ihn bisher überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatten. Auch die freundschaftliche Begrüßung der Männer fand neugierige Beachtung. War das der neue Umgang von Charles? Vielleicht ein zweiter Miles? Doch nein. Da brauchte man nicht genau hinzusehen: Die beiden waren wirklich befreundet. Da tendierte die Chance auf eine sensationsträchtige Auseinandersetzung gegen Null.

   „Passt der Edelmann gut auf dich auf?“, fragte Mike leise, doch laut genug, dass auch Charles die Frage verstehen konnte.

   „Ich kann mich wirklich nicht beklagen“, antwortete Miriam, ebenso leise. Ihr Blick flog mit verstohlenem Lächeln zu Charles hin, der es mit breitem Schmunzeln auffing.

   „Und die andern? Sind die auch nett zu dir? Oder muss ich einem Manieren beibringen?“

   „Mike, ich bitte dich! Das Beste, was mir passieren kann, ist, dass man mich gar nicht beachtet.“

   „Ach, tun die das? Das sehe ich aber anders. Wenn ich mich nicht irre, verschlingen sie dich gerade mit ihren Augen.“

   Miriam wagte einen kurzen Blick über die Schulter und sah, dass Mike völlig recht hatte. Die Männer musterten sie mit aufdringlichen Blicken, denen der Alkohol jede Zurückhaltung genommen hatte. Charles hatte es eilig, sie auf ihr Zimmer zu bringen, weg aus diesem schmutzigen Pulk, doch da öffnete sich die Tür, und Richard betrat den Raum, am Arm seine Frau. Sofort flogen die Blicke zum anderen Ende des Raumes und maßen die Neuankömmlinge.

   Richards Auftreten verströmte die übliche Autorität. Er provozierte sofort in jedem den Gedanken, dass man diesen Mann hier lieber zum Freund als zum Feind haben wollte. Sein Blick sondierte in Sekundenschnelle die Lage, das war eine seiner Stärken. Was er fand, war abstoßend genug: angetrunkene Schwätzer, halb besoffenes, sensationslüsternes Pack. Das Volk, das man in jeder Kneipe finden kann. Und ein Grund für ihn, dieses Ambiente zu meiden.

   Auch Ann rümpfte die Nase. Die miefige Luft, ein diffuses Gemisch aus Rauch und Alkohol, geschmacklich abgerundet durch die unangenehmen Körpergerüche, die der warme Sonnentag noch gefördert hatte, zauberten eine steile Falte auf ihre Stirn. Vorübergehend hatte sie ihre Aura von Güte und Liebreiz abgelegt. Sie machte aus ihrer Missbilligung keinen Hehl – was sofort Paul Perret gegen sie einnahm. Wähnte sich die Dame zu fein für seinen Saloon? Was hatten hier überhaupt Frauen zu suchen? Das hier war eine Männerwelt, zu der auch die entsprechenden Gerüche gehörten. Was war schon dabei? Und was das Schönste war: Es war ein gerammelt voller Laden von Männern. So vielen, wie seit Jahren nicht mehr. Eastbourne sei Dank! Heute Abend würde es in so mancher guten Stube in Asheville geharnischte Standpauken geben. Das war abzusehen. Darauf ließen es die Männer jedoch ankommen. Sicherheitshalber sollte man sich vielleicht aber doch noch ein wenig Mut antrinken. Paul Perret war selig.

   Charles ließ Miriam in Mikes Obhut und ging auf Ann zu. Sie reichte ihm die Hand, die er galant küsste. Jeder sollte zweifelsfrei wissen, dass hier eine Lady anwesend war, auch wenn die einfachen Reisekleider dies auf den ersten Blick nicht erkennen ließen. Sie schenkte ihm ihr bezauberndes Lächeln, das sie immer für ihn parat hatte.

   Auch Richards freundschaftlicher Gruß an Charles’ Adresse wurde begierig zur Kenntnis genommen. Da der Kerl keine Anstalten machte, ihre Neugier zu befriedigen, war man darauf angewiesen, die Puzzle-Teile selbst zusammenzusetzen. Und eines von der besonders aussagekräftigen Sorte war, dass die Neuankömmlinge zielstrebig auf die schöne Mulattin zugingen, die Frau sie liebevoll umarmte und der große Fremde ihr mit einer fast zärtlichen Geste über die Wangen strich. Was für eine Rolle spielte nur dieses seltsame Mädchen mit dem Reif am Arm? An der Stelle fiel das Puzzle immer wieder auseinander.

   „Willst du was trinken?“, fragte Charles. Doch Richard schüttelte den Kopf, obwohl ihn die lange Fahrt schon durstig gemacht hatte.

   „Ich bringe lieber die Frauen auf ihr Zimmer“, antwortete er. „Das hier ist keine Umgebung für sie.“

   Er wusste, dass es wichtig sein würde, Kontakt mit den Kaufleuten in Asheville aufzunehmen, wenn er mit ihnen Geschäfte machen wollte. Aber der Zeitpunkt war schlecht gewählt. Das Kneipenvolk war sensationshungrig, und er hatte keine Lust, jedes Wort genau abzuwägen, bevor er es auf die Goldwaage legte. Denn genau das würde er tun müssen. Man beobachtete ihn mit Argusaugen, versuchte sich ein Bild von ihm zu machen. Und über Carlyle, den Mörder seiner Kinder zu plaudern, reizte ihn schon gar nicht.

   „Hast du Grant erreicht?“, fragte er Mike.

   „Hab ich. Er wird gegen sieben Uhr hier sein und mit uns zu Abend essen.“

   „Sehr gut. Das sind noch gute zwei Stunden. Zeit sich auszuruhen und etwas frisch zu machen. Darf ich dich mit nach oben begleiten, Miriam?“

   Miriam lächelte in Charles’ Richtung.

   „Oh ja. Ich denke, ich werde mich auch noch etwas ausruhen. Der Nachmittag war anstrengender als ich dachte.“

   Charles verbiss sich das Lachen. Das Mädchen war einfach eine Klasse für sich.

   „Dann darf ich bitten, Ladies?“

   Richard nahm Ann und Miriam beim Arm und führte sie die Treppe hoch.

   Perret kam angewieselt. Es zahlte sich doch aus, dass er seit Charles’ Eintreffen ununterbrochen an der gleichen Stelle seines Tresens herumwischte. Da konnte man unauffällig mithören, was gesprochen wurde. Und das soeben Gehörte verschlug ihm den Atem.

   „Grant? Malcolm Grant? Hab ich das richtig gehört?“

   „Dein Gehör ist immer noch ausgezeichnet. Du hörst immer noch alles ganz genau, was deine Gäste unter vier Augen zu besprechen haben“, sagte Charles freundlich.

   Aber Perret hatte noch nicht einmal Zeit sich zu ärgern. Er lief zwar rot an, doch der Ärger verblasste angesichts der sensationellen Neuigkeit.

   „Malcolm Grant ist einer der sechs Gäste heute Abend? Der Malcolm Grant?“

   „So ist es!“, bestätigte Charles nachdrücklich. „Er kommt auf Einladung von Richard Attenborough.“

   „Der Lange, der gerade mit den Frauen hoch ist?“

   „Richtig.“

   Mike trank genüsslich sein Bier aus. Charles war einfach Klasse. Ganz unauffällig hatte er Richard zu einem Imagegewinn verholfen, wie er schöner nicht sein konnte. Richard Attenborough lud zum Essen ein, und ein so wichtiger und reicher Mann wie Malcolm Grant folgte der Einladung! Seit Jahren schon besuchte Grant jedes Jahr einmal seine Schwester in Asheville, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, aber noch nie hatte er sich in Perrets Saloon verirrt! Dieser Neue schien ein recht interessanter Kunde zu sein. Den sollte er hofieren. Und vielleicht auch darüber wegsehen, dass seine Frau so empfindlich war. Da lag Geld in der Luft!

   „Wir wollen ungestört sein. Deck den Tisch im hinteren Nebenraum“, ordnete Charles an. Perret konnte nur nicken. Die Sprache war ihm vorübergehend abhanden gekommen. Dann schnappte er sich seinen Sohn und bugsierte ihn hinter den Tresen. Er hatte Wichtigeres zu tun als Besoffene zu bedienen. Er musste sich ums Essen kümmern. Malcolm Grant würde bei ihm speisen! Wenn sich herumsprach, dass Kunden aus den allerhöchsten Kreisen bei ihm dinierten, dann wäre diese Reklame nicht mit Gold aufzuwiegen! Bloß keinen Patzer! Alles musste stimmen.

   Charles bestellte für sich und Mike ein weiteres Bier.

   „Wenn nur die Hälfte der Geschichten stimmt, die hier im Raum rum schwirren, dann bist du wohl eine ganz große Nummer gewesen“, grinste Mike, und es klang durchaus hochachtungsvoll.

   „Glaub nicht alles“, antwortete Charles unbehaglich. „Das alles war in einem anderen Leben.“

   „Aber offenbar ein Leben, in dem allerhand was los war. Langeweile kam in den Gesprächen nicht vor.“

   „Nein, langweilig waren die Wochenenden hier wirklich nicht. Aber nichts von dem, was wir getan haben, war wirklich sinnvoll.“

   „Himmel! Muss denn alles immer einen Sinn haben? Spaß zu haben ist doch auch ein Zweck an sich.“

   „Sicher! Wenn man die Grenzen wahrt“, antwortete er und griff nach dem Bierkrug, den Ben Perret ihm reichte. ‚Wenn man nicht von der Rolle vereinnahmt wird, die man spielt’, dachte er.

   Hinter seinem Rücken kam Bewegung auf. Er roch Bannister, noch bevor der seine Stimme erhoben hatte.

   „Das sind also deine neuen Freunde“, schnarrte er, wie immer die qualmende Zigarre im Mund. Die Kopfbewegung zeigte die Treppe hinauf, wohin Richard und die Frauen verschwunden waren. Charles drehte sich um.

   „So ist es, Henry. Das Beste, was du an wirklichen Freunden kriegen kannst.“

   Genau genommen war dies der definitive Schlussstrich: das Bekenntnis, dass das Thema ‚Asheville’, Bannister & Co. erledigt war, dass seine Definition von Freundschaft eine ganz neue war, die mit Henry nichts mehr zu tun hatte, implizit auch ein Hauch von Vorwurf, dass das Bannister’sche Verständnis von Freundschaft in der Vergangenheit ein recht fragwürdiges war – das alles hätte man aus der Antwort heraushören können, wenn man gewollt hätte. Aber Henry wollte nicht.

   Genauso wenig wie John Alcott, der nun hinzu kam. Wie sollte man diesen Kerl mit seiner aufreizenden Gelassenheit nur aus der Reserve locken? Vielleicht mit einer fein dosierten Provokation? Darauf war er in der Vergangenheit immer bereitwillig angesprungen. Alles, was sein Ego tangierte, wurde sofort heftig abgeschmettert.

   „Sag mal, was ist denn an dem Gerücht, dass du auf Eastbourne Castle nichts mehr zu sagen hast? Dass dir der Laden gar nicht mehr gehört?“

   Charles schaute ihn an, maßlos verblüfft. „Dieses Gerücht macht die Runde?“, fragte er ungläubig. Das war nicht zu fassen, was die Leute sich alles zusammenreimten. Doch bevor er antworten konnte, schaltete sich Mike in das Gespräch ein.

   „Das stimmt“, sagte er todernst. „Normalerweise haust er in einem finsteren Verlies tief im Keller. Heute lassen wir ihn ausnahmsweise mal frei rumlaufen. Aber morgen muss er wieder zurück an die Kette.“

   Bannister verschluckte vor Ärger fast seine Zigarre.

   „Wer, zum Teufel, ist denn dieser Rotzlöffel?“

   Charles lachte laut. „Darf ich vorstellen? Das ist Mike Preston. Und du kannst dem Himmel danken, wenn er auf deiner Seite ist, wenn es los geht.“

   „Wenn was los geht?“, fragte Bannister verständnislos. Charles schüttelte den Kopf.

   „Ach, vergiss es! Mike, das ist Henry Bannister. Mein bester Freund.“ Der Nachsatz kam mit einem kräftigen Schuss Sarkasmus. Aber es war nicht sicher, ob der bei Bannister ankam. Der gute Henry war recht hartleibig, was das Erkennen von Zwischentönen anging.

   „Hallo, bester Freund“, sagte Mike höflich und führte das Bierglas zum Mund. Henry lief rot an. Die Veralberung war nun so deutlich, die konnte sogar er nicht ignorieren.

   „Verdammt, Eastbourne. Du hast dich verändert“, kam es zwischen gelben Zähnen enttäuscht hervor. Er hatte keine Ahnung, wie sehr Charles dies als Kompliment auffasste. Er klopfte Bannister auf die Schulter:

   „Aber du, Henry, bist noch ganz der Alte!“

   Über das feiste Gesicht ging ein Grinsen. Das hatte der wiederum als Kompliment aufgefasst. So entstehen Missverständnisse!

   Folge dieses Missverständnisses war sein Eindruck, dass Charles wieder einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte, und Folge dieses Eindrucks war der Wunsch, endlich das loszuwerden, was ihn schon die ganze Zeit umtrieb. Er packte Charles am Arm und zog ihn aus dem Trubel auf die Seite.

   „Auf ein Wort, Eastbourne.“

   „Was gibt’s, Henry?“

   „Hör zu. Ich werd’ dir ein Geschäft vorschlagen, das dich von den Füßen holt.“ Er zündete sich umständlich und gewissenhaft eine neue Zigarre an. Zeit schinden. Den anderen neugierig machen. Dann die Bombe platzen lassen. Ein Geschäft, das seinem Ex-Freund eine Menge Geld einbringen wird. Charles wird begeistert sein. Vielleicht würde wieder alles so wie früher.

   „Dieses Mädchen, das du da bei dir hast...“

   „Miriam? Was ist mit ihr?“

   Bannister näherte sich ihm, damit er seinem Vorschlag durch einen besonders verschwörerischen Ton das nötige Gewicht geben konnte. Eine Fahne von Whiskey und Tabak ging der Sensation voraus.

   „Ich kauf sie dir ab. Was hältst du von zweitausend Dollar?“

   Charles hatte große Mühe, seine Verblüffung zu zügeln.

   „Du willst sie mir abkaufen? Hab ich das richtig verstanden?“

   Henry nickte ungerührt. „So ist es. Und wenn dir der Preis nicht passt – ich leg sogar noch was drauf.“

   „Aber was, um Himmels Willen, willst du mit ihr anfangen?“ Charles war immer noch ratlos, wie er diesen abstrusen Vorschlag einordnen sollte. Selbst wenn Bannister sie für eine Sklavin hielt – er hatte in der Vergangenheit nie etwas mit Sklaven am Hut gehabt.

   „Was soll ich schon mit ihr anfangen?“, knurrte er. „Ich werd’ sie ab und zu glücklich machen.“

   Charles kämpfte vergeblich gegen den Lachanfall an, der ihn fast erstickte. Die Vorstellung, wie glücklich Miriam in den Armen dieses impotenten, stinkenden Perversen sein würde, war mehr als er ertragen konnte. Er platzte lauthals los und schlug Bannister auf die Schulter.

   „Was für ein phantastisches Geschäft! Aber denk gar nicht drüber nach, Henry. Daraus wird nichts. Im Übrigen ist Miriam keine Sklavin. Sie ist so frei wie du und ich.“

   „Red keinen Unsinn. Den Sklavenreif kann jeder sehen. Also gut. Du bestimmst den Preis, Eastbourne. Ich diskutier ihn nicht! Los! Sag mir, was du haben willst.“

   Charles hatte sich wieder eingekriegt. Es war Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen.

   „Vergiss es, Henry“, sagte er genüsslich. „Für kein Geld der Welt. Im Übrigen bitte ich mir ein wenig mehr Respekt aus. Du sprichst von meiner zukünftigen Frau.“

   Bannisters Gesicht fiel auseinander. Der Schock saß so tief, dass er keine Kontrolle mehr über seine Mimik hatte. Der Unterkiefer klappte herunter und entließ sein unentbehrliches Markenzeichen zu Boden, wo es unbeachtet weiter qualmte. Er starrte Charles an, unfähig einen Ton rauszubringen. Sein Gesicht wurde zum heiterkeitsträchtigen Schauplatz schnell wechselnder Empfindungen: Da ging ungläubiges Staunen in maßlose Verblüffung über und endete in einem regelrechten Entsetzen über so viel Ungeheuerlichkeit.

   „Sag das noch mal!“, flüsterte er tonlos.

   „Du hast schon richtig verstanden, Henry. Ich werde in knapp drei Wochen Miriam heiraten.“

   „Bist du verrückt? Sowas heiratet man doch nicht. Sowas hält man sich fürs Bett.“

   Es war höchste Zeit, Grenzen zu ziehen. Charles’ Augen verengten sich zu Schlitzen, ein nicht zu unterschätzendes Alarmsignal. Er hatte die Freundlichkeit einer Klapperschlange, als er leise sagte:

   „Was man tut, ist mir ziemlich egal. Ich werde dieses Mädchen heiraten, das steht fest. Ich werde sowas zu Lady Eastbourne machen. Und wenn du fortfährst in solch einer abfälligen Art von sowas zu sprechen, dann wirst du dir eine Menge Ärger einhandeln. Ist die Botschaft angekommen?“

   Bannister schluckte mühsam. Er hob die zu Boden gefallene Zigarre auf und begann nervös auf ihr rumzukauen.

   „Ich mein’ ja nur“, knurrte er kleinlaut. Dann ermannte er sich und nahm einen weiteren Anlauf.

   „Herrgott, Charles, wenn du wieder eine Frau suchst, dann brauchst du doch nur ein Wort zu sagen. Wenn die Weiber mitkriegen, dass du wieder zu haben bist, dann werden sie Schlange stehen.“

   ‚Ich helf dir auch beim Suchen. Wozu hat man denn Freunde?’, wollte er noch hinzufügen. Aber der Teil blieb ungesagt. Charles hatte ihm den Rücken zugekehrt, ließ ihn einfach stehen und ging zurück zu Mike, um sein Bier auszutrinken. Er hatte die Nase voll von der Bande.

   „Ich bleib noch etwas hier“, sagte Mike. „Dieses Theater hier ist einfach unbezahlbar. Ich sag dir Bescheid, wenn Grant kommt.“

   Charles nickte. „Gut. Übrigens: Das kleine Zimmer am Ende des Gangs ist für dich reserviert.“

   „Du bezahlst mir ein Zimmer für die Nacht? Gehör ich zu deinem Gefolge?“

   Da waren sie wieder, diese kleinen Empfindlichkeiten, der Stolz des einfachen Mannes, der sich nicht aushalten lassen wollte! Mike war imstande, Charles’ gut gemeinten Freundschaftsdienst auszuschlagen und auf das Zimmer zu verzichten.

   „Red keinen Unsinn“, sagte Charles und stellte sein Bierglas ab. „Du bist nicht mein Gefolgsmann, du bist mein Freund. Ich bin froh, dass ich jemanden an meiner Seite habe, auf den ich mich verlassen kann. Das ist mir doch ein Zimmer wert.“

   Das war eine nette Brücke, über die Mike jedoch nur sehr zögerlich ging. Charles sah nun wirklich nicht wie einer aus, der Hilfe brauchte. Aber der Gedanke an ein bequemes Quartier für die Nacht ließ ihn dann doch zustimmen. Der Gefallen, den er ihm in den nächsten Tagen tun würde, wog das schon auf.

   „Na, schön. Es geht doch nichts über stinkreiche Freunde.“

   „Such dir was Kuscheliges für die Nacht“, empfahl Charles.

   „Mach ich. Ich fürcht mich sonst so allein.“

 

 

 

 

   Leseprobe 3

 

Einen Tag vor der Hochzeit trifft Colonel Jenkins mit seinen beiden Töchtern ein.

 

   Die beiden Kutschen des Colonels hielten ihren Einzug am späten Vormittag des folgenden Tages. Charles und Finn standen für den Empfang bereit. Der Colonel stieg als erster aus. Er war in Uniform, doch die brauchte er gar nicht, um seine Wirkung zu unterstreichen. Alles an dem Mann strahlte Souveränität und Autorität aus.

   Colonel Jenkins befand sich altersmäßig in den frühen Fünfzigern, ein großer, breitschultriger Mann, der immer noch den Eindruck vermittelte, dass er in einer Schlacht nicht die mindeste Mühe haben würde, jeden Gegner zu deklassieren. Die Schläfen wurden bereits silbergrau, was seinem Äußeren durchaus nicht abträglich war. Ein gepflegter Schnurrbart unterstrich das Männliche seiner rundum imposanten Erscheinung. Kluge, lebhafte Augen prüften die Gegebenheiten mit kritischem Interesse. Doch was er auf Eastbourne Castle vorfand, das musste auch den pedantischsten Kritiker zufrieden stellen. Seine straffe, aufrechte Haltung zeichnete ihn als einen typischen Soldaten: Respekt einflößend, Disziplin fordernd, Kompetenz ausstrahlend.

   Charles ging ihm entgegen. Ein fester Händedruck, dessen Herzlichkeit dadurch unterstrichen wurde, dass der Colonel die Linke noch hinzunahm, um dem Handschlag Nachdruck zu verleihen, ein breites Lachen auf dem Gesicht sprachen eine unmissverständliche Sprache: Die Freude über das Wiedersehen war echt.

   „Eastbourne, mein Junge, du siehst gut aus.“ Auch alle seine Kavalleristen waren ‚seine Jungs’. Colonel Jenkins verstand sich als Vaterfigur für die ihm anvertrauten Männer, und diese Aufgabe nahm er ernst.

   „Danke, Colonel Jenkins. Könnte nicht besser sein! Es ist mir eine Ehre, Sie hier auf Eastbourne Castle begrüßen zu können.“

   Es war ihm nicht nur eine Ehre, es war ihm eine reine Freude, den Mann wiederzusehen, den er verehrte wie keinen zweiten. Wann immer Jenkins, gewollt oder ungewollt, in seine Kavalleristen-Vaterrolle schlüpfte, hatte er dieses Angebot gerne angenommen. So ungefähr hätte er sich seinen idealen Vater vorgestellt: gerecht und, bei aller gebotenen Sorge um Werte wie Pflichterfüllung und Disziplin, immer auch auf das Wohlergehen seiner Leute bedacht.

   „Papperlapapp, Ehre! Wollte immer schon mal deine gute Stube besichtigen. Aber die Arbeit frisst einen ja auf.“

   Seine interessierte Prüfung war zu einem Ergebnis gekommen.

   „Alle Achtung! Hier lässt sich’s leben. Noble Hütte hast du da.“

   „Ja, Sir. Es ist in der Tat ein angenehmes Leben hier.“

   Der Colonel widmete sein Interesse wieder Charles. „So. Also eine Hochzeit wird das hier.“ Sein Ton hatte etwas Inquisitorisches angenommen, so als fordere er Rechenschaft, warum eine Hochzeit und keine Beerdigung anstand. „War ja nicht so erfreulich, was man zwischendurch so über deinen Zustand erfahren hat.“

   Er vertiefte nicht, dass Finn jedes Mal, wenn er seinen Besuch bei Charles beendet hatte, ausführlich Bericht erstatten musste, vor allem in den beiden letzten Jahren, als sich Charles’ Gesundheitszustand so dramatisch verschlechtert hatte. Seine Betroffenheit über dessen Schicksal war groß. Er hatte Charles von Anfang an gemocht, nicht nur, weil er Schneid hatte. Haudegen gab es einige in seinem Regiment. Haudegen mit Charakter waren deutlich seltener.

   „Das ist richtig, Colonel. Aber ich glaube, das kann ich als überwunden betrachten.“

   Ein erneuter prüfender Blick bestätigte, dass man Charles in diesem Punkt Glauben schenken durfte. „Na, dann ist ja gut!“, befand er gnädig.

   Fröhliches Gelächter unterbrach die Begrüßung. Die zweite Kutsche hatte mittlerweile haltgemacht und entließ zwei reizende junge Damen, die es sich nur zu gern gefallen ließen, dass Finn sie mit starken Armen aus der Kutsche hob. Wunderbar synchron hängte sich Amy in seinen rechten, Linda in seinen linken Arm ein.

   „Bist du stark!“, hauchte Linda bewundernd und himmelte Finn an. Der Colonel widmete sich seinem übermütigen Nachwuchs.

   „Colonel Jenkins, melde ergebenst: Formgerechtes Salutieren ist nicht möglich. Bin in einen feindlichen Hinterhalt geraten.“ Finn schnarrte die Meldung in bestem Militärjargon runter, kurz und ohne Umschweife, wie es sich gehörte. Der Colonel besah sich das Bild genauer, wie seine beiden Grazien mit ungebremster Begeisterung seinem Captain am Arm hingen.

   „Wehr dich, Finn! Gib alles!“, ordnete der Colonel an.

   „Fürchte, ich habe mich schon ergeben, Colonel. Allerdings: Noch nie war ein Feindkontakt so angenehm!“

   Der feindliche Hinterhalt brach in ausgelassenes Gelächter aus. Dann stürzten die beiden Mädchen, wieder einmal in bewundernswerter Gleichzeitigkeit, auf Charles zu.

   „Charles!“, lachte Amy. „Du bist ja ein richtiger Mann geworden!“

   „Na, und ihr beide zwei ausgesprochen reizende Ladies. Das letzte Mal, dass ich euch gesehen habe, wart ihr zwei wilde Gören. Kaum zu unterscheiden von einem Jungen. Also was das betrifft: Da sind alle Zweifel beseitigt.“

   Das fanden beide wieder furchtbar lustig.

   „So schöne Männer wie euch beide hat ganz Frankreich nicht zu bieten“, behauptete Linda mit bewundernswertem Überblick über die französische Männerwelt.

   „Na, da bilden wir uns doch mal was drauf ein, nicht wahr, Finn?“

   „Tun wir!“, bestätigte der Captain. „Ein Lob aus so kompetentem Mund – das zählt doch!“

   „Ich fürchte, das Heidengeld für die Erziehung der zwei war komplett rausgeschmissen“, seufzte der Colonel bekümmert.

   Amy hatte sich von Charles’ Arm gelöst und drehte sich mit ausgebreiteten Armen um sich selbst. „Was für ein wundervolles Schloss. Schade, dass du schon vergeben bist. Aber eins sag ich dir, wenn deine Braut morgen an der richtigen Stelle vergisst ‚ja’ zu sagen, dann spring ich sofort ein. Versprochen!“

   Charles lachte. „Na, fein. Dann kann ich dem Tag morgen ja gelassen entgegen sehen. Irgendeine Frau krieg ich also bestimmt ab.“

   Lindas Pläne standen auch schon fest. „Also, wenn ich mal heirate, dann nur einen, der auch so ein tolles Herrenhaus hat.“ Der Colonel verdrehte die Augen. Charles amüsierte sich köstlich über diesen kompletten Mangel an Contenance.

   „Ich mach dir einen anderen Vorschlag, Linda. Wenn du einen gefunden hast, der so mutig ist, dich zu heiraten, dann werde ich hier in diesem Schloss deine Hochzeit ausrichten. Ist das ein Wort?“

   „So spricht ein wahrer Freund“, kommentierte der Colonel, offensichtlich zutiefst erleichtert, das großzügige Anerbieten. „Stell dir mal vor, sie findet so einen nicht. Und ich bleib auf ihr sitzen!“

   Jetzt hingen beide rechts und links ihrem Vater im Arm. „Du bist ein brummbäriger Papa!“ befand Amy. „Findest du nicht auch, Finn?“

   Finn lachte. „Ich fürchte, da steht mit kein Urteil zu, Ladies.“

   „Richtige Antwort, Finn!“, knurrte der Colonel.

   Dann kamen ein gleichzeitiger Kuss rechts und links auf die väterliche Wange und anschließend ein genauso gleichzeitiger Wettlauf zu dem Pavillon im Park, wo ein Begrüßungstrunk auf sie wartete.

   „Wie machen die Mädchen das bloß? Ich meine, diese Gleichheit in allem, was sie tun“, wunderte sich Finn. „Da könnten sich meine Kavalleristen noch eine Scheibe abschneiden. Vielleicht sollten wir sie beim Exerzieren einsetzen.“

   „Vorschlag abgelehnt, Captain. Aus den beiden sollen Damen werden. Nichts anderes. Irgendwie muss das doch zu schaffen sein.“

 

 

 

   Leseprobe 4

 

An der Hochzeitstafel wird über Politik gesprochen

 

(…)

   Grant machte sich über das frisch aufgetragene Hasenfleisch her. Verführerische Düfte stiegen auf, ließen alle Politik als unwichtig erscheinen und vereinnahmten eine Zeitlang seine volle Konzentration. „Ein Genuss!“, schwärmte er. Seine Frau stimmte ihm eifrig nickend zu. Viel sagen konnte sie nicht – der Mund war zu voll.

   Doch die Gesellschaft eines so berühmten Mannes wie Jenkins musste man ausnützen. Fraglich, wann ihm wieder ein so hoch kompetenter Gesprächspartner wie der Colonel unterkam, und er liebte nichts mehr als Gespräche über Politik. Die gestrige Unterhaltung auf der Veranda hatte ihm gezeigt, dass der Colonel mit beiden Beinen mitten im politischen Geschehen stand.

   „Ich wundere mich, dass Sie hier sind, hier auf Eastbourne Castle“, begann er seinen Vorstoß.

   „Wo hätten Sie mich denn eher vermutet?“, fragte Jenkins zurück.

   „Nun, in Philadelphia, denke ich.“

   „Sie wissen davon?“

   Grant lachte. „Natürlich. So geheim kann die Sache nicht sein, dass ich nichts davon weiß. Solange man mein Geld braucht, weiß ich auch Bescheid.“

   „Aber soweit ich weiß, hat Georgia niemanden entsendet. Auf welcher Seite steht ihr eigentlich?“

   „Wir werden schon noch dazu stoßen. Wir in Georgia, wir durchdenken alles ein wenig gründlicher. Aber dann sind wir nicht mehr aufzuhalten“, versprach Grant.

   Charles hatte mal wieder keine Ahnung, wovon die beiden redeten. Sobald es um Politik ging, bestand die Schadensbegrenzung darin, dass man höflich den kompetenten Gesprächspartnern das Feld überließ und sich fein in ein dezentes Mauseloch verkroch. Die Politik der großen Welt war weit von ihm weg. Doch mit einer gewissen Erleichterung konstatierte er, dass auch Richard offenbar nicht wusste, wovon Grant und Jenkins sprachen. Das ermutigte zu einer klärenden Frage.

   „Darf man erfahren, was wir derzeit verpassen, wenn wir hier in Eastbourne Castle eine unbedeutende Hochzeit feiern, anstatt irgendwo in Philadelphia zu sein?“

   Jenkins widmete dem köstlichen Braten seine gesamte Aufmerksamkeit und antwortete fast beiläufig:

   „Zwölf der dreizehn Kolonien treffen sich im Augenblick in Philadelphia, um zu beraten, wie man sich gegen die neuen Gesetze aus England wehrt.“

   Charles wurde aufmerksam. „Sprechen wir jetzt von ungeliebten Maßnahmen des englischen Königs?“

   Grant lachte mit vollem Mund. „Das war nett untertrieben. Was da aus England rüberschwappt – das kann man nicht tolerieren.“

   „Was denn, zum Beispiel?“

   Die Fleischstücke auf dem Teller des Colonels bekamen Stellvertreterqualitäten. Jedes Mal, wenn er eine der skandalösen Verordnungen benannte, mit denen das britische Mutterland seine Kolonien maltraitierte, zerhackte er ein unschuldiges Stück Fleisch mit der Gabel, verärgert und wütend, als ob er einen dieser schändlichen englischen Minister, am besten gleich den verhassten Premierminister, Lord North persönlich, am Hals hätte. Missmutig schob er sie an den Tellerrand, wo sich allmählich die Fleischstücke häuften und sozusagen zu einer fleischgewordenen Anklage wurden.

   „Nun, es geht schon damit los, dass diese Holzköpfe in London keinen Vertreter der Kolonien im Parlament dulden. Wir dürfen zwar mächtig Steuern zahlen, haben aber keine Rechte. Und das ist noch nicht das Schlimmste. Die Engländer können hier machen, was sie wollen. Alle britischen Beamten sind der Rechtssprechung der Gerichte entzogen. Das bedeutet eine komplette Willkürherrschaft. Das geht sogar so weit, dass jeder Amerikaner einem britischen Soldaten sein Haus, seine Wohnung zur Verfügung stellen muss, wenn der das verlangt. Das muss man sich mal vorstellen. Und um die Amerikaner wirklich an der ganz kurzen Leine zu halten, dürfen überall in den Städten keine Versammlungen mehr abgehalten werden.“

   „Und der Hafen von Boston ist immer noch geschlossen“, fügte Grant hinzu. Seine Empörung ging allerdings nicht so weit, dass er deshalb das feine Hasenfleisch verschmähte.

   „Immer noch?“, fragte Charles vorsichtig nach. Unwissenheit sollte man nur in fein dosierten Ausmaßen zugeben. Aber diese Frage konnte Richard beantworten.

   „Ein paar Aktivisten, die ‚Söhne der Freiheit’, haben letzten Dezember im Bostoner Hafen knapp hunderttausend Pfund Tee ins Wasser gekippt. Tee, der auf drei Schiffen aus England kam. Die Zölle waren unverschämt hoch.“

   Grant nickte. „Richtig, Richard. Das war der Auslöser. Das ist auf das Konto von Sam Adams und John Hancock gegangen. Seitdem spucken die hohen Herrschaften in London Gift und Galle. Auf ihren Kopf ist mittlerweile schon ein hübscher Preis ausgesetzt. Und diese ganzen Gesetze sind die logische Folge von ihrer Wut. Sie wollen’s den Kolonien jetzt mal richtig zeigen und sie in die Knie zwingen.“

   Charles betrachtete interessiert den aufgetürmten Fleischberg auf dem Teller des Colonels. Immer noch musste das unschuldige Ragout Jenkins’ Zorn ausbaden.

   „Colonel, wenn Ihnen das Gespräch über Politik den Appetit raubt, dann sollten wir vielleicht das Thema wechseln.“

   Langsam fand Jenkins wieder zu einem Schmunzeln zurück. „Du hast recht. So viel Macht wollen wir den Engländern nun auch wieder nicht zugestehen, dass ich ihretwegen, solch einen herrlichen Braten stehen lasse“, bekannte er und begann die schuldig gewordenen Fleischstücke, eines nach dem anderen, zu verspeisen, so als wolle er damit eine Ungerechtigkeit der Engländer nach der anderen aus der Welt schaffen. „Und außerdem: Ich denke, dass die Männer in Philadelphia Wut und Mut genug haben, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.“

   „Dann sollten wir doch die Gläser erheben und auf ihr Wohl trinken. Vielleicht hilft das!“ Charles’ patriotischer Beitrag wurde gerne angenommen, schließlich war er ebenso genussträchtig wie politisch ungefährlich. Die Gläser erklangen und entsandten ehrliche Wünsche für tüchtige und fruchtbare Entscheidungen in das ferne Philadelphia.

(…)

   Ann schaltete sich in das Gespräch mit ein. „Gehen die Männer in Philadelphia nicht ein hohes Risiko ein?“, fragte sie. „Es dürfte auf der Hand liegen, dass sich die Engländer das nicht bieten lassen wollen.“

   Jenkins gab ihr recht. „Wir reden hier in der Tat von Hochverrat, Mrs. Attenborough! Aber das Gute an der Sache ist, dass ihnen das Land über den Kopf wächst. Es ist einfach zu groß, um es dauerhaft kontrollieren zu können. Und je mehr Verbote die britische Regierung erlässt, desto mehr Beamte braucht es, um das alles durchzusetzen. Das können sie einfach nicht schaffen.“

   Grant erweiterte den Gedanken noch. „Hinzu kommt, dass diese Männer in Philadelphia durch die Bank bekannte und angesehene Persönlichkeiten sind. Ich schätze mal, das werden über fünfzig oder sechzig Männer sein. Die festzusetzen, das werden sich die Briten dreimal überlegen. Das wär der Stich ins Wespennest. Das wär der Krieg.“

   Jenkins hatte den Hasenfleischstücken schließlich den Garaus gemacht. Mit einem anständigen Schluck Wein spülte er den britischen Affront hinunter. Er war ernst geworden.

   „Der wird wohl ohnehin nicht zu verhindern sein. Entwicklungen, die so weit gediehen sind und bei denen es schon so viele Verhärtungen gibt, die gehen nur noch in eine Richtung.“ Eine betroffene Stille machte sich einen Moment lang breit. Der Begriff „Krieg“ lag wie ein Verhängnis über der Tafel und erstickte jede Fröhlichkeit.

   „Können wir solch einen Krieg gegen eine Weltmacht wie Großbritannien überhaupt gewinnen?“, fragte Charles.

   Der Colonel zuckte die Achseln. „Nur wenn es Wunder regnet. Die einzelnen Kolonien haben zwar jeweils ihre Regimenter, aber das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein. Zahlenmäßig fallen die kaum ins Gewicht. Dann gibt es wohl noch die Bürgermilizen. Aber die sind nicht ausgebildet. Ab und zu ein paar Kämpfe gegen die Indianer. Das ist nicht vergleichbar mit einem Kampf gegen ein bestens ausgebildetes Heer von kampferprobten Soldaten. (…) Dazu kommt, dass alle Kolonien gemeinsam an einem Strang ziehen müssen. Wenn sie nicht in der Lage sind, ihre eigenen Interessen der gesamten Idee unterzuordnen, dann geht das schief“, fuhr Jenkins fort.

   „Können sie das?“, fragte Charles nach.

   „Das wird nicht zuletzt abhängig davon sein, wer sie führt“, antwortete Jenkins.

   „Wer käme in Frage für den Job? John Hancock?“ Richard zeigte wieder einmal, dass er durchaus auf der Höhe des Geschehens war. Doch Jenkins schüttelte zweifelnd den Kopf.

   „Hancock würde sich für ein solches Angebot selbst entleiben. Der brennt auf solche Aufgaben. Trotzdem ist er nicht die Idealbesetzung. Er ist zwar in Boston und Umgebung eine große Nummer. Seit der Tea-Party-Geschichte da im Hafen hat er ungezählte Anhänger. Aber eben nur in Massachusetts. In den anderen Kolonien steht man ihm reservierter gegenüber. Denn eines ist auch klar: Er ist, genau wie Sam Adams, ein Heißsporn. Und so einem vertraut man nicht so gern seine Soldaten an. Da muss ein besonnener Kopf her.“

   „So einer wie George Washington zum Beispiel“, ergänzte Malcolm Grant und verzog verzückt das Gesicht, als er bis zu der Apfel-Nuss-Füllung im Innern des Fasans vorstieß. Gefüllter Fasan, gewürzt mit Politik! Ein Hochgenuss!

   Er hatte völlig ins Schwarze getroffen. Der Colonel nickte lebhaft Beifall.

   „Sehr richtig! George wäre der Richtige. Der hat im siebenjährigen Krieg schon unter Beweis gestellt, dass er was vom Kämpfen versteht.“

   „Mag sein!“, antwortete Richard. „Aber damals hat er auf der Seite der Engländer gegen die Franzosen gekämpft. Jetzt sind die Engländer seine Feinde.“

   „Trotzdem! Washington ist ein großer Patriot. Der hat letztes Jahr angeboten, eintausend Mann auf seine eigenen Kosten auszuheben und mit ihnen nach Boston zu marschieren, um der Stadt zu Hilfe zu kommen.“

   „Tausend Mann? Auf eigene Kosten?“ Charles war beeindruckt.

   Henry Bannister auch. „Weiß der mit seinem Geld nichts Besseres anzufangen?“

   Der unpatriotische Beitrag blieb unkommentiert. Grant überhörte ihn einfach und führte das Gespräch weiter: „Washington hat Format. Der kann Menschen führen. Da würden alle Kolonien mitspielen. Sogar Georgia.“

   „Sie kennen ihn, Colonel?“, wollte Grant wissen.

   Jenkins nickte. „Und ob. Wir haben zusammen am Lake George gegen die Franzosen gekämpft. Washington ist mitten im Kugelhagel aufs Schlachtfeld geritten und hat zusammen mit Daniel Boone unsere Verletzten rausgeholt.“

(…)

   Doch die politischen Problemfelder waren noch nicht ausgereizt. Beim folgenden Gang, einer raffiniert gewürzten Fleischpastete, fand der Konflikt mit dem Mutterland seine Fortsetzung.

   „Diese Tea Party da im Bostoner Hafen hat die Dinge mächtig vorangetrieben. Sam Adams und John Hancock sind Hitzköpfe“, fuhr der Colonel fort. „Auf die muss man aufpassen.“

   „Um eine solche Sache voranzutreiben, braucht es Hitzköpfe“, widersprach Grant. „Aber auch kluge Köpfe. Und die gibt es ja nun auch in der Bewegung. Ich denke dabei an Thomas Jefferson.“

   „Der Anwalt aus Virginia?“ Richard zeigte wieder einmal, dass er Bescheid wusste. Jenkins nickte.

   „Ganz hervorragender Mann. Hat vor kurzem einen ausgezeichneten Artikel über die Rechte der Kolonien herausgebracht. Darin hat er den Engländern jedes Recht abgesprochen, sich in die Angelegenheiten der Kolonien einzumischen. Hat hier richtig für Furore gesorgt und die Engländer mächtig auf die Palme gebracht. Aber genau das sind die Dinge, die die Leute brauchen: Gedruckte Ideen in der Hand. Darüber kann man dann überall diskutieren. Und wenn man diskutiert, dann bleibt die Idee auch im Rollen. Wenn man so will, bieten sie den philosophischen Unterbau für eine Bewegung. Der ist auch wichtig.“

   „Wie alt ist der Mann?“, fragte Charles nach. Diese ganzen Namen sagten ihm nichts, aber er hatte ein dringendes Bedürfnis, sich in irgendeiner Form vertrauter mit dem Problem zu machen, Zugang zu den Persönlichkeiten zu schaffen, die hier ihren Kopf hinhielten für eine Sache, die auch die seine war.

   „Dein Alter, mein Junge“, antwortete Jenkins. „Genau genommen auch deine Statur. Genau so groß und hochgeschossen. Bei Dunkelheit könnte man euch verwechseln.“

   Nur dass Jefferson philosophische Ideen von Freiheit und Gleichheit zu Papier brachte, während er verkommenen Säufern den Hut vom Kopf schoss!

(…)

   Die Süßspeisen wurden aufgetragen. Colonel Jenkins lehnte dankend ab, doch das Ehepaar Grant geriet in Verzückung bei den leckeren Puddings und Cremes.

   „Jefferson ist noch zu jung, um die Rolle der Führerfigur auszufüllen“, führte der Colonel den Gedanken weiter. „Er ist ein Mann, der schreiben kann, ja, aber als Redner ist er nicht zu gebrauchen. John Adams, der könnte passen. Ist zwar auch ein Heißsporn wie sein Cousin Sam, aber er kann reden. Der kann begeistern, wenn er richtig in Fahrt ist. Aber da ist noch einer, der wär wie kein anderer prädestiniert für diese Aufgabe. Aber er ist halt weit weg.“

   Richard nippte an seinem Weinglas. „Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen, Colonel. Benjamin Franklin, nicht wahr?“

   Jenkins war beeindruckt. „In der Tat. Sie kennen sich gut aus.“

   Wer war denn das schon wieder? Doch Charles erinnerte sich, den Namen schon gehört zu haben. Wahrscheinlich damals als Junge von seinem Privatlehrer. War das nicht der mit dem Blitzableiter? Was hatte ein Erfinder mit der Sache zu tun?

   Richard lachte. „Ich hab schon als Kind seine amüsanten und klugen Artikel gelesen. Seine köstlichen Kalendergeschichten vom ‚armen Richard’. Mein Vater hat alle Nummern davon aufbewahrt.“

   „Aber Benjamin Franklin kann ja nun mehr als nur publizieren. Er ist Schriftsteller, Politiker, Erfinder und Philosoph, alles in einem. Und wahrscheinlich hat er noch ein Dutzend weiterer Berufe. Ein wirklich bemerkenswerter Mann. Aber leider seit zehn Jahren schon in England. Hier würden wir ihn jetzt brauchen.“

   Malcolm Grant hatte das letzte Stück Früchtekuchen verspeist und leckte sich genüsslich den Zuckerguss von den Fingern. Genauso genüsslich platzierte er jetzt seine Neuigkeit in der Runde.

   „Die Chancen stehen bestens, dass er zurückkommt“, sagte er und freute sich über die durchschlagende Wirkung, die seine Worte hatten. Colonel Jenkins legte seine Pfeife zur Seite, die er gerade anzünden wollte. Malcolm Grant hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

   „Was wissen Sie, Malcolm?“

   „Ich habe Franklin aufgesucht, als ich in England war“, erklärte der heiter, als sei dies eine hübsche Anekdote. Kein Zweifel: Malcolm Grant hatte in seinen Europa-Besuch alles hineingepackt, was möglich war. James Watt, Richard Arkwright, jetzt Benjamin Franklin – Langeweile hatte ihn wohl nicht geplagt.

   „Ich habe ihn aufgesucht, um ihn zu überreden, einige seiner Erfindungen patentieren zu lassen. Ich hätte ihm dann seine Patente für gutes Geld abgekauft. Habe ihm ein wirklich gutes Angebot gemacht.“

   „Aber?“

   „Er hat glattweg abgelehnt. Er will nichts patentieren lassen. Er hat gesagt, wenn er was erfindet, dann soll jeder davon profitieren können.“

   Die Tafel wurde bereichert um neue Töne. Henry Bannister lachte meckernd.

   „Der Gipfel der Dummheit! So viel Geld zu verschenken! Die Patente hätten ihn zu einem steinreichen Mann gemacht.“ Sein hochklassiger Beitrag in dieser politischen Unterhaltung löste eine betretene Stille aus. Colonel Jenkins zog missmutig an seiner Pfeife, und Malcolm Grant verstummte ebenfalls.

   Bevor das Schweigen zu Beklommenheit wurde, ergriff Miriam das Wort. Ihr Beitrag kam mit fester Stimme.

   „Colonel Jenkins, dieser Mr. Franklin müsste unbedingt zu diesem Kreis von Männern stoßen, die sich in Philadelphia treffen“, sagte sie. Jenkins schaute sie an. Mit einem Beitrag von ihrer Seite hatte er nicht unbedingt gerechnet. Aber er war schon neugierig, was sie zu sagen hatte.

   „Weshalb, glauben Sie, müsste er dazu gehören?“

   „Weil er ein Mann ist, der die Menschen liebt. Ich glaube, nur diese Männer dürften in die Politik gehen.“

   Ann pflichtete ihr bei. „Miriam hat recht. Das sehe ich auch so. Wenn einer in die Politik geht, weil er machtverliebt ist oder sich gar bereichern will, dann ist er fehl am Platze. Wenn andere Interessen als die gemeinsame Sache im Vordergrund stehen, dann ist sie schon verloren.“

   Colonel Jenkins fand allmählich wieder zu seiner guten Laune zurück. „Und ich finde, wir sollten die Frauen viel stärker in die politischen Geschäfte mit einbinden. Eigentlich eine Schande, dass das reine Männersache ist. Wie wär’s, Mrs. Attenborough, keine Lust auf Politik?“

   Ann lachte und winkte mit beiden Händen ab. „Aber nein, Colonel. Ich habe von Politik nicht die mindeste Ahnung.“

   „Aber Sie haben Ahnung von Menschen. Und das ist irgendwie dasselbe. Oder zumindest sollte es so sein.“

   „Vielleicht, Colonel, ist der weibliche Anteil an Politik größer als man denkt. Diese klugen Männer, die diese wichtigen Entscheidungen treffen – sie werden sich sicher auch mit ihren Ehefrauen darüber unterhalten haben. Und wer weiß, ob der eine oder andere nicht auch Gedanken einfließen lässt, die er von seiner Frau gehört hat.“

   Der Colonel nickte beifällig.

   „Absolut richtig. Ich weiß zum Beispiel, dass ein so kluger Mann wie John Adams erst einmal den Rat seiner guten Abigail einholt, bevor er was tut.“

   „Aber Ann, meine Liebe, in einem Punkt kann ich Sie beruhigen“, schaltete sich Malcolm Grant wieder ein in das Gespräch. „Diese Männer, die sich hier in Philadelphia treffen, sind wirklich an der Sache interessiert. Das sind durchweg Männer, die mit beiden Beinen im Leben stehen. Alle in wichtigen Berufen. Die meisten wohlhabend und reich und bereit, ihr eigenes Vermögen in die Sache einzubringen. Die meisten kenne ich. Und bei keinem von denen würde ich an der Lauterkeit seiner Gründe zweifeln.“

   „Das ist gut zu hören.“

   Jenkins wandte sich wieder an Grant. „Sie haben immer noch nicht gesagt, warum Sie glauben, dass Ben Franklin wieder zurück nach Amerika kommen will.“

   Grant ließ sich Zeit mit der Antwort. „Es geht ihm nicht gut“, sagte er schließlich. „Nicht nur gesundheitlich. Sein Rheuma, seine Gicht! Aber viel schlimmer ist: Er wird angefeindet. Im Parlament, in der Presse, in der Öffentlichkeit. Wedderburn, dieser Hund von einem Generalstaatsanwalt, hat ihn bei einer Anhörung eine ganze Stunde lang aufs Übelste beschimpft. In aller Öffentlichkeit. Franklin hat kein Wort gesagt. Noch nicht einmal eine Miene verzogen. Haben die erzählt, die dabei waren. Hat sich höflich verabschiedet und ist gegangen. Aber er war tief getroffen. Seit dieser Aktion im Bostoner Hafen ist der Zorn der Briten auf die Kolonien kaum mehr zu zügeln. Und Franklin ist nun mal der Repräsentant Amerikas in England. Da kriegt er den ganzen Ärger ab. In unserem Gespräch hat er mir gesagt, dass er spätestens im Frühjahr, wenn die Überfahrt nicht mehr ganz so stürmisch ist, wieder zurück nach Amerika kommt.“

   Die Brauen des Colonels zogen sich bedenklich zusammen.

   „Wenn die Engländer diesen Mann fertig machen, dann ist das von all den Schweinereien, die sie sich geleistet haben, die übelste“, knurrte er. „Aber wenigstens bringt ihn das dazu, wieder nach Hause zu kommen.“

*

(…)

   Reizender Besuch näherte sich der Ehrentafel. Amy trat auf Finn zu, die Hände ebenso dekorativ wie energisch in die Hüften gestemmt, in der Stimme ein Gemisch von Vorwurf und Schmollen.

   „Ich warte jetzt mindestens schon eine Viertelstunde lang, dass du mich zum Tanzen aufforderst und nichts passiert!“

   Verblüffung kämpfte gegen den unbändigen Drang loszulachen. Finn amüsierte sich köstlich über Amys wenig ladyliken Auftritt.

   „Aber du bist ja die ganze Zeit am Tanzen. Wie soll ich da...“

   „Ja, hast du denn gar keinen Ehrgeiz, schneller zu sein als die andern?“

   So gefragt, war die Auswahl an passenden Antworten denkbar eingeschränkt.

   „Doch, natürlich...“

   Colonel Jenkins verdrehte entnervt die Augen. „Amy, bitte! Es schickt sich nicht, dass eine Lady den Gentleman zum Tanzen auffordert. Das geht nur umgekehrt.“

   „Aber wenn er mich nicht auffordert, dann kann ich ja auch nicht mit ihm tanzen!“

   Dieses Argument hatte in der Tat viel für sich. Der Colonel setzte schon an, um zu ergänzen, dass das eine der Unwägbarkeit war, mit denen eine Lady zu kämpfen hatte, da rettete Finn die Situation.

   „Amy, ich wollte gerade...“

   „Na, dann tu’s doch auch!“

   „Also, gestattest du, dass...“

   „Natürlich gestatte ich! Ich gestatte schon seit einer Viertelstunde!“

   „Darf ich dann um diesen Tanz bitten?“

   „Du darfst!“, antwortete sie gnädig. „Na, bist du jetzt zufrieden, Papa? Du siehst ja, der Gentleman hat die Lady aufgefordert. Alles so, wie es sein soll!“

   Hoch erhobenen Hauptes zog sie an Finns Arm los. Der Colonel sah ihr resigniert nach. „Rausgeschmissenes Geld!“, seufzte er bekümmert.

   Er erhielt Beistand in seinem großen Kummer.

   „Ist es erlaubt, sich einen Moment zu Ihnen zu setzen, Colonel?“ Ann hatte amüsiert die Szene mitverfolgt und ihren Platz neben Richard verlassen. Jenkins erhob sich erfreut.

   „Selbstverständlich, Mrs. Attenborough.“

   „Ich fürchte, unsere Schwarzen sind mehr daran interessiert, den Rhythmus zu klatschen als sich um die Gläser unserer Gäste zu kümmern. Darf ich Ihnen nachschenken?“

   „Da sag ich nicht nein.“

   „Und Ihnen, Father McEvan?“

   „Danke, Mrs. Attenborough. Ich glaube, ich bleib beim Wasser.”

   Ann füllte das Glas des Colonels und auch ihr eigenes und mit einer leichten Geste tranken sie sich zu.

   „Sagen Sie, Mrs. Attenborough, wie macht man richtige Damen aus solch einem übermütigen Gemüse“, fragte der Colonel und wies bekümmert mit dem Daumen auf seine beiden Töchter, die ausgelassen tanzten. Ann lachte.

   „Seien Sie nicht so streng mit den Mädchen, Colonel. Die beiden haben ein Herz aus Gold. Das ist das Wichtigste. Der Ernst des Lebens wird wohl auch vor ihnen nicht halt machen und ihnen früher oder später einen Teil ihrer Unbekümmertheit nehmen. Da sollte man ihnen doch jeden Tag gönnen, an dem sie ihre Lebenslust auskosten.“

   Jenkins war nicht überzeugt. „Trotzdem! Ein wenig mehr vornehme Zurückhaltung wäre schon schön“, seufzte er.

   „Wissen Sie, was ich glaube, Colonel Jenkins? Ich bin überzeugt, dass sich die beiden perfekt benehmen können, wenn es darauf ankommt. Aber hier und jetzt erscheint ihnen das vielleicht nicht so wichtig. Sie fühlen sich hier wie zu Hause und sehen nicht die Notwendigkeit, eine steife Etikette an den Tag zu legen. Das empfinde ich fast als ein Kompliment. Sie sind hier einfach unter Freunden und leben ihre unbekümmerte Verliebtheit in Ihren Captain aus. Und den scheint’s ja nun auch nicht zu stören. Also machen Sie sich keine Sorgen.“

   Jenkins blickte seine Gesprächspartnerin aufmerksam an. Da saß eine ganz besondere Frau an seiner Seite, das spürte er. Er ließ sich gerne beruhigen von ihren tröstlichen Worten, genoss die Wärme ihrer Stimme und ihre liebevolle Absicht, ihm seine Sorgen zu nehmen. „Glauben Sie wirklich?“

   „Aber natürlich, Colonel. Ganz sicher. Beim Abendessen gestern waren Ihre Töchter ein Muster an gutem Benehmen.“

   „Tatsächlich? Und Sie sagen das nicht nur, um mich zu trösten?“ Ann lachte.

   „Sicher nicht.“ Dem Colonel wurde es weich ums Herz, als sie mit der für sie typischen fürsorglichen Geste ihre Hand unaufdringlich auf seinen Arm legte. Prompt überfielen ihn Gedanken, wie er sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, genau genommen seit dem Tod seiner Frau nicht mehr. Gedanken wie zum Beispiel, dass trotz all der großen Aufgaben, für die er stand, ein Teil seines Lebens unerfüllt und leer war. Gedanken wie zum Beispiel, dass es großen Spaß machen könnte, mit einer so außergewöhnlichen Frau ein Tänzchen zu wagen. Die Heiterkeit der Tanzenden beflügelte dieses Gefühl, und die Geige schien lockender und verführerischer zu spielen als eben noch. Auf solch seltsame Gedanken konnte man kommen, wenn die Hand einer reizenden Frau auf seinem Arm zu liegen kommt.

   „Sind Sie auch eine mutige Frau, Mrs. Attenborough?“

   Ann blickte erstaunt ob der unerwarteten Frage. „Mutig in welcher Beziehung?“

   „Nun, mit einem alten, eingerosteten, völlig aus der Übung gekommenen Soldaten einen Tanz zu wagen.“

   Ann lachte. „Da bin ich nicht nur mutig, Colonel Jenkins, da werd’ ich sogar tollkühn.“

   „Dann werde ich mich mal zu Ihrem Mann begeben und ihn fragen, ob er Sie mir für einen Tanz ausleiht.“

   Jenkins stand auf und näherte sich Richard. Der saß neben Mike und konnte dem auch nicht helfen bei der schwierigen Frage, ob er mit seinen mäßigen Tanzkünsten Jenna Parker auffordern sollte. Eine hochmütige Ablehnung lag so deutlich in der Luft, dass er sich die Zurückweisung eigentlich sparen könnte. Aber andererseits: Sie so lachend als Tanzpartnerin von Bart Randolph zu sehen, der offenbar das Tanzen auch nicht erfunden hatte – das ergab schon eine ungute Häufung schmerzhafter Stiche in der Magengegend, nur ungenau identifiziert als etwas, was entfernt mit einem Gefühl wie Unbehagen verglichen werden konnte. Die Suche nach weiteren Begriffen, mit denen man dieses Gefühl benennen konnte, verbot er sich.

   Der Colonel wandte sich an Richard. „Mr. Attenborough, ich würde gerne etwas tun, was ich seit Jahren schon nicht mehr getan habe, nämlich tanzen.“

   Richard lachte. „Colonel, Sie wollen mich jetzt nicht allen Ernstes um diesen Tanz bitten, oder?“ Das amüsierte auch den Colonel.

   „Nein. Eigentlich hatte ich dabei eher an Ihre Frau gedacht.“

   „Das beruhigt mich. Von mir hätten Sie nämlich einen Korb bekommen. Aber wenn meine Frau einverstanden ist, dann geht das natürlich in Ordnung.“

   Colonel Jenkins verbeugte sich höflich und führte dann Ann zum Tanz. Seine beiden Töchter quietschten vor Vergnügen, als sie ihren Vater bei der ungewohnten Übung sahen. Doch unbeirrt führte der Colonel sein Tänzchen zu Ende und machte dabei nicht einmal eine schlechte Figur.

 

 

 

   Leseprobe 5

 

Der Kampf um Eastbourne Castle beginnt.

 

*

   Finn und Ken hatten es sich wieder im Jagdzimmer gemütlich gemacht. Es war eine liebgewordene Gewohnheit geworden, den Abend bei einem guten Glas Wein und noch besseren Gesprächen zu beschließen. Die Zeit drängte. Nur noch drei Tage. Dann musste Finn wieder nach Fort Russel zurück.

   Mitternacht war schon vorüber. Nur das Kaminfeuer erhellte den Raum spärlich. Die Stimmung war gelöst. Die Männer lachten über eine Anekdote, die Finn gerade zum Besten gegeben hatte. Da öffnete sich die Tür. Winston betrat den Raum.

   Auf den ersten Blick sah Charles, dass etwas nicht stimmte. Die weißen Augen in dem schwarzen Gesicht rollten wild, und allein schon die Tatsache, dass er diese geheiligte Runde störte, verhieß nichts Gutes.

   „Was ist los, Winston?“

   Der Alte druckste herum. „Master Charles, aus dem Schlafzimmer kommt so ein Stöhnen. Vielleicht sollten Sie nachsehen, ob es Mrs. Miriam gut geht.“

   Charles war sofort auf den Beinen. „Hol Doc Perkins! Hoffentlich ist nichts mit dem Baby.” Er rannte mit langen Schritten ins Schlafzimmer, Finn und Ken folgten ihm.

   Der Raum verströmte eine Eiseskälte, die die Jahreszeit nicht rechtfertigte. Sie kroch den Männern bis ins innerste Mark, ließ sie frösteln.

   Miriam lag auf dem Bett. Das schweißnasse Gesicht hatte die Farbe des Lakens, der ganze Körper wurde von konvulsivischen Zuckungen geschüttelt, ihr Atem ging röchelnd. Ein angstvolles Stöhnen zerriss die entsetzte Stille, als die Männer hilflos an ihrem Bett standen und zusahen, wie sich die junge Frau in Krämpfen wand. Ihre Augen waren weit geöffnet, und trotzdem schien sie nichts wahrnehmen zu können. Charles fasste nach ihrer Hand. Auch sie war schweißnass und eiskalt.

   „Miriam!“, rief er angstvoll. „Hörst du mich?“

   Sie gab keine Antwort. Ihr Kopf schlug hin und her, als wolle sie einen bedrückenden Albtraum loswerden. Charles glaubte zu verstehen.

   Winston und der Doktor kamen angelaufen. Aber Charles war sich sicher, dass dies kein Fall war, bei dem George helfen konnte. Er schickte Winston in den Westflügel.

   „Los, Winston! Sag Ann und Richard Bescheid.“

   George Perkins hatte ihren Arm ergriffen und fühlte den Puls.

   „Grundgütiger Himmel! Der rast ja schneller als ich zählen kann. Das hält das Herz nicht lange durch.“

   Charles versuchte wieder, zu ihr durchzudringen. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie sacht. „Miriam! Um Gottes Willen, komm zu dir!“ Doch ihre Augen blickten nach wie vor wirr. Sie hörte ihn nicht.

   Ann stürzte ins Zimmer. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, sich anzukleiden. Charles machte ihr sogleich Platz. Sie griff nach Miriams eiskalter Hand.

   „Warmes Wasser! Tücher! Schnell!“, befahl sie. „Mammy wird auch gleich da sein.“ Während Winston nach unten eilte, um das Wasser zu holen, drückte Ann fest ihre Hand mit beiden Händen, rieb sie, versuchte, wieder Wärme in sie einfließen zu lassen.

   „Miriam!“, rief sie eindringlich. „komm zurück!“

   Das Zittern wurde etwas schwächer, doch der Anfall ließ sie nicht los. Wieder stöhnte sie und fiel in die Unruhe ihres Albtraums zurück. Die Qual, die daraus sprach, ließ allen im Raum das Blut stocken.

   Winston brachte das Wasser und versuchte, mit den warmen Tüchern auf ihrer Stirn wieder etwas Leben in ihre Erstarrung zu bringen. Das war eine Handlung, die hatte er drauf. Ob warme Tücher oder kalte – da machte ihm keiner was vor. Doch als Mammy kam, trat er zur Seite. Mammy legte ihre beiden Hände an ihre Schläfen und sammelte sich. Dann begann sie leise zu singen. Worte, die niemand verstand, ein magischer Singsang, der urplötzlich einen Bann um sie alle schlug und sie lähmte. Niemand vermochte sich zu bewegen, alle standen reglos und schauten voller Entsetzen auf die junge Frau.

   Langsam verlor sich deren Zittern, der Krampf schien sich zu lösen, ein Hauch von Farbe trat wieder in ihr Gesicht. Ihre Augen gewannen an Klarheit, zeigten an, dass sie, zutiefst erschöpft, wieder in ihre Welt zurückkehrte.

   Richard stand plötzlich neben ihrem Bett. Er war vollständig angekleidet. In der Hand hielt er einen Degen. Er war der einzige, der offenbar in der Lage war, sich diesem seltsamen Bann zu entziehen.

   „Miriam! Sag uns, was los ist! Bitte!“

   Sie öffnete den Mund, rang sichtlich nach Worten. Dann flüsterte sie unter großen Mühen: „Das Schloss ist in Gefahr. In großer Gefahr!“

*