Leseprobe

 

„Na, Winter, schon bei der Arbeit? Sehr lobenswert.“

Richter Burkhardt betrat sein Amtszimmer mit dem üblichen Schwung, der mitunter seinen behäbigen Protokollschreiber schwindlig machte. Ein höflicher Gruß war nur in Ausnahmefällen zu kriegen. Darüber konnte sich Winter jeden Morgen aufs Neue ärgern.

Hans Winter war grauhaarig, stand ein Jahr vor der Pensionierung, und es war nicht erkennbar, wie weit er es noch bringen sollte. Der bekanntermaßen gewöhnungsbedürftige Humor des Richters ging ihm mal wieder gründlich auf den Geist. Auch das war nichts Neues.

„Guten Morgen, Herr Richter“, sagte er und betonte jedes Wort in der Hoffnung, dass der Vorwurf mit rüberkam. Doch der Richter ging hartleibig über solch eine belanglose Nebensächlichkeit hinweg. Er blickte mit unverhohlenem Widerwillen auf die wenig sinnvolle Beschäftigung seines Protokollschreibers. Hans Winter war ein grauenhafter Pedant. Seine größte Sorge war, dass die Ordner säuberlich Kante auf Kante lagen. Burkhardt wurde schon nervös beim bloßen Zusehen.

„Mensch, Winter. Nun hören Sie doch auf, Korinthen zu kacken. Sagen Sie mir lieber mal, ob die andern schon da sind.“

Die andern – damit waren die Mitglieder der Kammer gemeint, die heute über einen kniffligen Fall zu befinden hatte.

„Die Richter Tilmann und Schuster hab‘ ich schon gesehen. Unten beim Kaffeeautomaten.“

Burkhardt verzog das Gesicht.

„Kein Wunder, dass das Urteilsvermögen der Kollegen manchmal gestört ist. Diese Plörre kann doch keiner, der nur halbwegs bei vernünftigem Verstand ist, runterkriegen.“

Burkhardt besaß das Exklusivrecht auf gesundes Urteilsvermögen. Das wusste jeder, der jemals mit ihm gearbeitet hatte. Doch genau genommen war das von der Wahrheit nicht allzu weit entfernt. Der Richter besaß in der Tat eine Menge gesunden Menschenverstands. Vielleicht lag es daran, dass er seinen eigenen Kaffee mitbrachte.

„Die beiden Schöffen sind neu“, fuhr Winter fort.

„Wer ist das?“

„Eine Grundschullehrerin und ein Landwirt. Sind noch nicht belehrt und vereidigt. Soll das der Tilmann machen?“

„Richter Tilmann braucht das nicht zu machen.“ Die Betonung des Titels, den Winter unbotmäßigerweise ausgelassen hatte, war eine deutliche Zurechtweisung. Mangelnden Respekt vor dem Richteramt konnte auf keinen Fall geduldet werden. Der Richter besaß auch das Exklusivrecht auf Unhöflichkeit. „Das mach‘ ich selber. Ich will mir ein Bild machen von den Leuten, die mit in meiner Mannschaft spielen.“

Er griff nach der Anklageschrift, vertiefte sich in die Akte und überflog nochmals seine eigenen Notizen dazu.

„Die Anklageschrift ist brillant, nicht wahr?“ Jetzt verriet die Stimme des griesgrämigen Protokollschreibers ein nicht zu leugnendes Vergnügen. „Die Anklage vertritt Staatsanwalt Lukas.“

Winter wusste, dass Burkhardt den Staatsanwalt nicht ausstehen konnte, und den Lieblingsfeind zu loben, war auch eine Form ihn zu ärgern. Burkhardt wurde auch prompt sauer.

„Ich weiß selber, dass er gut ist.“

„Erfolgsquote von so um die neunzig Prozent“, rieb Winter vergnügt weiter Salz in die Wunde.

„So, das reicht jetzt“, brach der Richter die hinterfotzige Lobeshymnen ab. „Wenn Lukas in den Ring steigt, dann sollten wir vielleicht noch ein paar zusätzliche Stühle parat stellen. Jede Wette, dass die Weiblichkeit wieder vollständig vertreten sein wird.“

Hans Winter war in Maßen zu Humor fähig. „Wahrscheinlich kommen die Referendarinnen nur, um Ihr weises Urteil zu hören.“

Burkhardt schnaubte unwillig. „Quatsch. Weises Urteil! Meine Urteile sind genauso weise, wenn der alte Mittermüller die Anklage vertritt. Aber da hospitiert kein Schwein. Da verirren sich gerade mal ein paar Gerichtsreporter hin und das auch nur, weil sie müssen. Aber wenn Frankfurts Superstar seinen Auftritt hat, dann ist die Bude gerammelt voll.“

Richter Burkhardt hatte gelegentlich die Tendenz zur Übertreibung. Aber im Ansatz traf seine Bemerkung schon ins Schwarze. Wenn Christopher Lukas Justitias schlüpfriges Parkett betrat, waren in der Regel zwei gute Dutzend Zuschauer vertreten, bei spektakulären Fällen reichte der Platz nicht aus. Irgendwie hatte regelmäßig vor allem der weibliche Teil der Referendarenschar das Bedürfnis, dringend etwas für den Praxisbezug zu tun und das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Das hatte seine guten Gründe. Lukas war eine brillante Erscheinung: groß, schlank, durchtrainiert, im maßgeschneiderten Anzug – er war durchaus was fürs Auge. Vor allem fürs weibliche. Dass sich da ein paar fachfremde Motive eingeschmuggelt hatten, die die Zuschauerzahlen nach oben schnellen ließen, war nicht zu vermeiden.

Auch Lukas‘ Verhandlungsführung war eine Klasse für sich. Bisher war es noch keinem gelungen, den Staatsanwalt aus der Fassung zu bringen. Seine Gelassenheit, auch wenn der Fall eine überraschende Wendung nahm, war Teil seines Panzers aus Überlegenheit, der ihn umgab und ihn vor der Durchschnittlichkeit der andern bewahrte. Die linke Hand lässig in der Hosentasche vergraben, signalisierte ein gewisses Gelangweilt sein. Die Botschaft war klar: Mein Gott, Leute, seid doch nicht so schwer von Begriff! Ihr stehlt mir mit eurer Begriffsstutzigkeit die Zeit! – eine Attitüde, die der Arroganz verdächtig nahekam. Richter Burkhardt war einige Male kurz davor, ihn zu ermahnen, doch Christopher Lukas war klug genug, die Grenze nicht zu überschreiten, die er bei jedem Richter zog. Er wusste: Bei Burkhardt war die Toleranzschwelle deutlich niedriger. Da durfte man nicht übertreiben. Bei anderen Richtern war die Leine länger.

Ohne Zweifel: Lukas liebte seinen Beruf. Größtes Vergnügen bereitete es ihm, wenn er auf einen Gegner traf, mit dem er sich auf Augenhöhe messen konnte. Einen gegnerischen Anwalt rhetorisch in die Schranken zu weisen, betrachtete er fast als sportliche Herausforderung. Seine Schlagfertigkeit war ebenso gefürchtet wie seine hintergründige Ironie, mit der er die Lacher auf seine Seite zog und so den Gegner erledigte. Der Gerichtssaal gab ihm die Gelegenheit seinen messerscharfen Verstand, seine geschliffene Rhetorik und seine bestechende Beweisführung zu demonstrieren. Medienscheu zu sein war das Letzte, was man ihm unterstellen durfte. Die Reporter hielten ihm gern das Mikrophon vor und baten um seinen Kommentar. Dann war die Standardantwort, dass er zufrieden sei, seinen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass der Gerechtigkeit Genüge getan worden sei. Sein amüsiertes Grinsen strafte dabei die abgrundtiefe Bescheidenheit seiner Worte Lüge.

 Das Gefecht vor den Schranken des Gerichts war ein Wettkampf, den er siegreich zu bestehen gedachte. Ein Sieg war ein Triumph, den er auskostete wie einen teuren alten Cognac. Anschließend verabredete er sich mit seinem Freund Alexander Görner zum Tennis und kompensierte seine innere Anspannung, indem er ihm die Bälle um die Ohren drosch.

Burkhardt verübelte ihm mitunter, dass er seinen Gerichtssaal als Bühne für seine Selbstdarstellung missbrauchte. Doch es war nicht zu leugnen, dass er einfach gut war. Er war ein ausgezeichneter Jurist. Sein Prädikatsexamen öffnete ihm alle Türen für eine glänzende Karriere, die er auch zielstrebig nutzte. Er spezialisierte sich auf Gewaltverbrechen (mit denen stand man automatisch im Mittelpunkt), bemühte sich um die schwierigsten Fälle und machte sich akribisch und wie besessen an deren Aufarbeitung. Da war Aktenstudium bis spät in die Nacht keine Seltenheit. Ihn auf dem linken Fuß zu erwischen, weil er etwa zu wenig vorbereitet war – das war ein Triumph, den er keinem Gegner gönnte.

Doch seine Eitelkeit war nur eine Seite der Medaille. Er war ohne jeden Zweifel auch Idealist. Die Alternative, eine Anwaltskanzlei zu eröffnen, hätte ihn vom Finanziellen her noch größere Möglichkeiten geboten, doch die Zielsetzung, dafür zu sorgen, dass Unrecht und Gesetzlosigkeit bestraft werden müssen, war ein starkes Motiv, sich für die andere Seite zu entscheiden.

Geld spielte ohnehin nicht die entscheidende Rolle. Er kam aus einem reichen Elternhaus.

Deutlich größer als sein Gerechtigkeitssinn war jedoch seine Genugtuung darüber, dass er als Staatsanwalt Macht besaß. Er brachte die Schuld des Angeklagten auf den Punkt, er konfrontierte ihn mit seinem Verbrechen, er forderte die Bestrafung, die der arme Sünder so fürchtete und die sein Leben in eine andere Bahn werfen würde. Christopher Lukas genoss die Macht über die anderen. Der Richter sprach zwar das Urteil, aber er stellte die Weichen.

Es war ein offenes Geheimnis, dass Lukas heißer Anwärter auf das Amt des leitenden Oberstaatsanwalts war, wenn Dr. Meier, der derzeitige, in ein paar Jahren in den Ruhestand ging. Lukas dürfte dann einer der Jüngsten in Deutschland sein. Das war auch Burkhardt bekannt.

„Trotzdem – mir passt der Kerl nicht. Für den ist jeder Fall ein Spiel. Da stehen Menschen vor Gericht mit Schicksalen, keine Pappnasen. So was wie mildernde Umstände kennt der nicht. Und wenn’s ums Strafmaß geht, dann spinnt er vollends. Immer das Höchstmaß.“

„Dafür gibt’s ja dann Richter, die weise Urteile fällen.“

Burkhardt lugte misstrauisch über seine Nickelbrille in Richtung seines Protokollschreibers.

„Sind wir witzig heute?“, fragte er bissig.

„Nicht die Spur“, antwortete Winter ernsthaft. „Ich und Witze? Wie kommen Sie denn da drauf?!“

„Ändert nix daran, dass er sich in meinem Gerichtssaal zu benehmen hat. Zirkus duld‘ ich nicht“, grollte der Richter weiter. „Aber wenn sein Fanclub nicht in hysterisches Kreischen ausbricht oder in Ohnmacht fällt, wenn er sein Plädoyer hält, dann soll’s mir egal sein.“

*

 

(...)

 

 

Christopher Lukas stellte seinen Wagen in der Tiefgarage ab und nahm seine Aktentasche vom Rücksitz. Ein Blick auf die leere Parkbucht neben seiner sagte ihm, dass Jenny noch nicht von der Schule zurück war. Sie schneiderte mit einer Gruppe von Schülerinnen die Kostüme für Titanias Elfen. Die Theateraufführung rückte näher.

Der Tag war gut gelaufen. Lukas hatte einen Aktenberg von beträchtlicher Höhe abgearbeitet, noch rechtzeitig eine Radarfalle entdeckt und freute sich nun auf einen gemütlichen Abend mit seiner Frau. Er würde Jenny zum Abendessen einladen und den Tag auf der Dachterrasse bei einem gepflegten Tropfen Rotweins ausklingen lassen.

In seiner Tasche befand sich ein Katalog, von dem er hoffte, dass er zum Höhepunkt des Abends werden würde. Er hatte Kontakt aufgenommen mit einer Organisation namens ‚Children’s Care’, die Adoptionen von Kindern in Indien vermittelte. Zwar missfiel ihm die Vorstellung, dass man in diesem Katalog herumblätterte und sich ein menschliches Wesen aussuchte, wie man auf dem Gemüsemarkt nach dem Salatkopf suchte, der am makellosesten erschien, aber er versprach sich von der Sichtung der Kinderbilder einen weiteren Schub in Richtung ‚Muttergefühle’ bei Jenny. Der Gedanke daran, dass sie all die brachliegende Liebe und Fürsorge für einen kleinen Menschen verwirklichen konnte, würde vielleicht den Schleier der Traurigkeit von ihr nehmen, der sie immer noch umgab und der Christopher ins Herz schnitt.

„Guten Abend, Staatsanwalt!“

Die Stimme kam aus dem diffusen Halbdunkel, einige Meter weit von ihm entfernt. Eine Gestalt lehnte an einer der Säulen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Jackentaschen vergraben.

Christopher Lukas fuhr herum. Er wusste, dass er die Stimme kannte, eine Stimme, in der ein ständiges Amüsiert-Sein mitschwang, doch die Erinnerung versagte ihm den Dienst. Er wollte ein paar Schritte auf den Mann zugehen, um ihn besser erkennen zu können, doch mit einer fließenden Bewegung fuhr dessen rechte Hand aus der Tasche und richtete einen Revolver auf ihn.

„Stehen bleiben“, befahl die Stimme knapp. Lukas hielt in der Bewegung inne und breitete die Arme aus zum Zeichen, dass er unbewaffnet war.

„Was soll das? Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“

„Was ich von dir will? Vielleicht einen Höflichkeitsbesuch abstatten. Gehört sich doch wohl, dass man sich bei guten Bekannten zurückmeldet, wenn man sich acht Jahre lang nicht mehr gesehen hat. Oder?“

Lukas antwortete nicht auf die Frage, die eigentlich keine war. Stattdessen wiederholte er seine Frage. „Wer sind Sie? Ich bezweifle, dass ich großen Wert auf Ihren Höflichkeitsbesuch lege.“

Aus dem Halbdunkel kam ein amüsiertes Lachen. „Frag mich nicht, wer ich bin, frag mich lieber, was ich sein werde. Ich werde dein schlimmster Albtraum werden. Darauf kannst du einen lassen.“

Lukas’ Augen gewöhnten sich langsam an das schummerige Licht. Die Kapuze verdeckte die obere Gesichtshälfte, aber der dünne Ziegenbart am Kinn löste endlich Erinnerungen aus.

„Koslowski“, murmelte er. „Rüdiger Koslowski. Sie haben zehn Jahre gekriegt. Wieso sind Sie schon raus?“

Wieder kam ein gut gelauntes Lachen zwischen den Säulen hervor.

„Ich war ein mustergültiger Gefangener. Zerknirscht, reumütig. Wirklich vorbildlich.“

„Und warum sind Sie jetzt hier? Was soll das heißen: Sie werden mein schlimmster Albtraum?“

Das Lachen war verstummt, die Stimme veränderte sich von einem Moment zum andern. Sie wurde kalt, hasserfüllt, schneidend.

„Acht Jahre lang hab‘ ich jeden Tag davon geträumt, dir hier gegenüberzustehen und dir zu sagen, was dir blüht. Ich habe mich noch nicht entschlossen, ob ich dir die Kugel in den Kopf jage oder ins Herz. Vielleicht schieß ich dir auch nur die Eier ab und seh zu, wie du langsam krepierst. Vielleicht mach ich aber auch was ganz Anderes. Wie gesagt, ich hab‘ mich noch nicht entschieden.“

Lukas’ Mund war trocken geworden. Es war zwar selten, kam aber doch vor, dass verurteilte Verbrecher Drohungen gegen Richter und Staatsanwälte ausstießen, die sie dafür verantwortlich machten, wenn sie nun für Jahre hinter Gittern landeten. Die Einsicht, dass der Strafe ein Vergehen vorausgegangen war und Gerechtigkeit nur funktionieren konnte, wenn eine Strafe das Unrecht wieder aufwog, war kaum vorauszusetzen.  Koslowski war offenbar weit davon entfernt, der erste dieser Art zu sein.

Lukas hatte solchen Drohungen nie große Bedeutung beigemessen. Wut und Frustration schufen sich mitunter solche Ventile, und in der Regel nagt auch der Zahn der verstreichenden Zeit an der Intensität der Drohungen.

Hier aber war offenbar alles anders. Der Ton der Stimme war voller Wut, und die Fantasien seines Gegenübers waren sehr konkret auf Folter und Tod ausgerichtet. Der abgrundtiefe Hass machte die Drohungen glaubwürdig. Hier hasste jemand so sehr, dass er zu allem fähig war.

„Jetzt bist du sprachlos, nicht wahr“, höhnte Koslowski weiter. „So sprachlos bist du damals vor Gericht nicht gewesen. Da hast du das große Wort geführt. Bist du immer noch sauer, dass du mir den Mord an dem Wachmann nicht anhängen konntest?“

„Mit der Zeit wird’s weniger“, antwortete Lukas trocken.

Es war schon richtig, dass er an der Niederlage gekaut hatte, auf eine Mordanklage verzichten zu müssen. Doch es war klar, dass sie nicht durchzusetzen war. Und bevor er im Rampenlicht einer sensationslüsternen Öffentlichkeit eine Niederlage einfuhr, ließ er es lieber sein.

Koslowski und zwei weitere harte Jungs hatten einen Geldtransporter überfallen, bei dem einer der Wachmänner erschossen worden war. Wem von den dreien der Revolver gehörte, aus dem die tödlichen Schüsse gefallen waren, war nicht herauszufinden. Die Waffen waren vorher von allen Fingerabdrücken gründlich gereinigt worden, und beim Überfall selbst trugen alle drei Handschuhe. Geschossen wurde aus allen drei Revolvern, so dass bei allen Schmauchspuren feststellbar waren, die aber nicht weiterhalfen, und bei der Festnahme lagen alle Waffen nebeneinander auf dem Boden, so dass nicht mehr feststellbar war, welcher Revolver wem gehörte.

Auch die übliche Vorgehensweise der Polizei, die Festgenommenen gegeneinander auszuspielen, geriet in die Sackgasse. Alle drei nahmen das Angebot des Staatsanwalts an, den Schuldigen zu nennen und über die Kronzeugenregelung einen Teil der eigenen Haut zu retten. Der Schönheitsfehler an der Sache war, dass jeder einen anderen beschuldigte, sie schlugen sich gewissermaßen im Kreis und blieben hartnäckig bei ihrer Aussage bis zum bitteren Ende, das deshalb so bitter war, weil lediglich Verurteilungen wegen gemeinschaftlich begangenem Raubüberfall herauskamen. Wer für den Mord an dem Wachmann verantwortlich war, konnte nicht geklärt werden.

Lukas hatte damals schon der Leistung der Verbrecher Respekt gezollt. Das bezog sich weniger auf die fatale Treffsicherheit ihrer Schüsse, sondern vielmehr auf ihre raffinierte Weitsicht. Das Trio hatte bereits im Vorfeld Strategien festgelegt, die greifen mussten, wenn die Aktion scheiterte. Das war ungewöhnlich, denn im Normalfall galt das Augenmerk ausschließlich dem Gelingen.

Die Vernehmungen zeigten klar auf, dass der Kopf der Bande eindeutig Koslowski war. Die beiden anderen waren lediglich Erfüllungsgehilfen, mehr nicht.

Auch von der Kaltblütigkeit her war Koslowski der Einzige, der als Täter in Frage kam, aber beweisbar war seine Tat nicht. Die Dreierkette bestand ihre Zerreißprobe. Der Tod des Wachmanns blieb ungesühnt. Es war einer der bitteren Momente, wo das Recht an seine Grenzen stieß.

„Warum sind Sie hier?“, fragte Lukas. Seine Hände waren immer noch ausgebreitet. Die hilflose Haltung machte ihn halb verrückt, doch sein gewaltbereitetes Gegenüber ließ keine heldenmütige Gegenwehr zu.

„Das werd’ ich dir sagen, Staatsanwalt. Ich bin gekommen, um abzurechnen. Mit allen, die damals mit von der Partie waren. Ihr werdet alle bezahlen. Und das nicht zu knapp.“

„Bezahlen?“, echote Lukas konsterniert. Dann präsentierte Koslowski seine Trumpfkarte mit einem perfiden Genuss an dem Entsetzen seines Gegenübers.

„Der erste ist doch schon über die Klinge gesprungen, nicht wahr? Muss nicht das Gesetz seit fünf Wochen auf einen seiner besten Hüter verzichten? Dauerhaft verzichten, versteht sich!“

Lukas durchfuhr es siedend heiß. Vor fünf Wochen hatte es einen tödlichen Unfall gegeben. Hauptkommissar Brandstätter war mit seinem Wagen von der Straße abgekommen, hatte sich mehrfach überschlagen und war noch am Unfallort seinen Verletzungen erlegen. Lukas traf die Erkenntnis mit der Schmerzhaftigkeit eines Messerstichs. Brandstätter war der Beamte gewesen, der Koslowski und seine Bande damals festgenommen hatte. Und jetzt war er tot!

„Wollen Sie damit sagen, dass Brandstätters Unfall gar keiner war?“

Der kapuzenvermummte Kopf im Halbdunkel nickte eindeutig Zustimmung.

„Dass Sie ihn umgebracht haben?“

„Richtig!“, kam die Bestätigung ungerührt, fast heiter.

„Das glaub ich nicht“, versuchte Lukas hilflos dagegenzuhalten, wohl wissend, dass Leugnen noch nie ein passables Mittel war, sich mit einer unangenehmen Wahrheit zu konfrontieren. „Die Ermittlungen haben ergeben, dass das ein klarer Unfall war. Überhöhte Geschwindigkeit und Aquaplaning.“

Das amüsierte Koslowski ungemein.

„Ein nettes Kompliment machst du mir da, Staatsanwalt. Keine Spuren, keine Zeugen, also kein Mord und damit auch keine Bestrafung. Perfekt! Ein Mörder gesteht sein Verbrechen, und der Hüter des Gesetzes besteht darauf, dass es keins war. Besser geht’s nicht.“

„Sie wären doch verrückt, mir gegenüber einen Mord zu gestehen.“ Lukas versuchte, durch Logik die grauenhafte Wahrheit zu leugnen. Doch die Logik des anderen war auch nicht von schlechten Eltern.

„Wieso? Solange wir keine Zeugen haben bei unserem kleinen Plausch, hat das hier nicht stattgefunden.“

Es war entsetzlich schwierig, bei diesem Gespräch die Oberhand zu gewinnen. Lukas spürte, wie all seine bewährten Strategien versagten angesichts der Unverfrorenheit, mit der sein vermummtes Gegenüber ihm den Kampf ansagte. Ein Kampf offenbar auf Leben und Tod, bei dem der andere unermessliche Vorteile besaß, weil er sämtliche Spielregeln des Gesetzes außer Kraft setzen konnte, während er selbst an deren Befolgung sklavisch gebunden war.

„Und wie geht’s jetzt weiter?“

Die Stimme des anderen verlor den provozierenden Unterton des Amüsiert-Seins und wurde wieder schneidend und hasserfüllt.

„Heute kommst du noch davon, Staatsanwalt. Aber jetzt fängt für dich ‚ne spannende Zeit an. Wenn du morgens mit deiner Frau frühstückst, wirst du dich fragen, ob du abends noch mit ihr zusammen zu Abend essen wirst, oder ob du nicht schon auf einem glatten Tisch in der Gerichtsmedizin liegst, ohne deine Innereien. Wenn du sie vögelst, solltest du deinen Orgasmus genießen, es könnte dein letzter sein. Du solltest deine paar restlichen Tage noch ganz bewusst leben.“

„Danke für den guten Tipp“, sagte Lukas. Er kämpfte mühsam um eine halbwegs aufrechte Haltung. Einem Gewaltverbrecher Auge in Auge gegenüberzustehen, war ja schließlich nichts Neues für ihn. Aber vor Gericht trennten sie immer die sicheren Schranken der Gerechtigkeit. Doch hier in der Tiefgarage gab es keine Polizisten, um seinen Schutz zu garantieren. Hier war er der physischen Gewalt hilflos ausgeliefert.

Er hegte keine Zweifel, dass Koslowski jedes Wort ernst meinte. Seine primitiv-plumpe Art, den Staatsanwalt zu duzen, um ihm zu zeigen, dass er ihm jeden Respekt verweigerte, durfte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er hochintelligent war. Das war auch Lukas bewusst.

„Das wird wirklich ‚ne spannende Angelegenheit werden“, fuhr der andere fort. „Einen Mord zu begehen und davonzukommen – das ist hohe Kunst. So wie du vor Gericht mit deinen Argumenten jonglierst, so werde ich mein Können dagegensetzen. Spuren werden ins Nichts führen, Alibis werden bombensicher sein – nichts wird beweisbar sein. Und ich werd’ mich totlachen, wenn du gegen eine Gummimauer rennst.“

„Sie sind doch verrückt. Sie werden Fehler machen. Wir kriegen Sie. Das ist sicher“, versuchte Lukas dagegenzuhalten.

„So sicher, wie ihr mich für den Tod von Brandstätter, diesem Schweinehund, drankriegt? So sicher, wie ihr mich gekriegt habt bei der Sache mit dem Wachmann?“

„Sie geben also zu, dass Sie es waren, der ihn erschossen hat?“

Wieder lachte der andere. Es schien ihm richtig gut zu gehen an diesem Abend. „Das interessiert doch jetzt nicht. Wir haben Wichtigeres zu besprechen. Nicht wahr?“

„Wir plaudern gerade über einen weiteren Mord. Den Mord an mir. Ein Mord mit Ansage. Das wird Ihnen das Genick brechen.“

„Beweise es, Staatsanwalt, beweise es! Nur was beweisbar ist, zählt. Und für dieses Gespräch gibt es keine Zeugen. Also hat es nie stattgefunden. Du kannst alles tun, was immer du willst, wenn du nur dafür sorgst, dass es keine Beweise gibt. Die große Freiheit. Die Überwachungskameras hier werden nur zeigen, dass du ein gepflegtes Gespräch mit einem Unbekannten gehabt hast. Nichts weiter.“

„Also können Sie die Tat von damals ja auch gestehen. Nur so, um meine Neugier zu befriedigen.“

„Ich bin nicht hier, um bei dir irgendwas zu befriedigen. Ich bin hier, um dir zu sagen, was dir blüht. Den Richter hab ich auch auf meiner Rechnung gehabt. Aber der hat sich aus dem Staub gemacht. Schade. Der sitzt in ‚ner Klapsmühle und kapiert nichts mehr.“

„Richter Kraus ist in einem Heim für Demenzkranke“, versuchte Lukas die Würde des alten Richters wiederherzustellen, der damals Koslowski verurteilt hatte.

„Ist doch dasselbe. Wenn ich seiner Alten die Kehle durchschneide, dann kriegt er das doch nicht mehr mit. Also soll sie davonkommen. Aber du, Staatsanwalt, du wirst leiden, verlass dich darauf. Ich pack dich bei den Eiern. Da, wo’s richtig wehtut. Das wird mein Tag sein, auf den ich seit Jahren gewartet hab. Und nichts wird beweisbar sein.“

‚Also wieder einmal der uralte Wettstreit Verbrechen gegen Gesetz’, dachte Lukas frustriert. ‚Und ich bin der Einsatz!’

„Dass nur das bestraft wird, was beweisbar ist, lässt uns Gesetzesbrechern interessante Spielräume“, fuhr Koslowski gut gelaunt fort und benutzte den Begriff, als ob er einem angesehenen Berufsstand angehörte. Fehlte nur noch das gewerkschaftliche Organisiert sein. „Und die werd’ ich nützen.“

„Sie werden auf die Schnauze fallen“, versprach Lukas und legte jede Menge Überzeugung in seineDrohung.

„Wollen wir wetten? Wart’s ab! Meine Trumpfkarte kannst du nämlich nicht ausstechen: Ich allein bestimme den Zeitpunkt. Und vielleicht warte ich so lange, bis die Sache in Vergessenheit geraten ist. Bis du schon gar nicht mehr daran denkst. Wenn du dich richtig sicher fühlst. Dann schlag ich zu. Vielleicht aber auch früher. Das weiß allein ich. Aber jetzt empfehle ich mich, Staatsanwalt Lukas. Angenehme Albträume.“

Koslowski ging ein paar Schritte rückwärts, den Revolver immer noch auf Lukas gerichtet, dann verschwand er zwischen den parkenden Autos, immer bedacht im toten Winkel der Überwachungskameras zu bleiben. Vor dem Ausgang zog er die Kapuze tiefer und spurtete los.

Lukas sah keinen Sinn darin, ihm hinterherzulaufen. Er lehnte sich an seinen Wagen und versuchte die Emotionen in den Griff zu bekommen, die ihn übermannten. Er brauchte eine geraume Zeit, bis er zum Aufzug gehen konnte, um hoch in sein Appartement zu fahren.

Oben angekommen, führte ihn sein erster Weg an die Hausbar. Er brauchte dringend etwas Hochprozentiges, um den Schock hinunterzuspülen. Er vermied den Griff zur Whiskeyflasche, worauf er am meisten Lust gehabt hätte. Ein guter Single Malt hätte sicher gute Freundschaftsdienste geleistet im Kampf um seine Fassung, die er unbedingt wiedererlangen musste, bevor Jenny nach Hause kam. Sie durfte auf keinen Fall von der Sache erfahren. So labil, wie ihr Zustand derzeit war, könnte das die kleinen Fortschritte wieder zunichtemachen. Aber seine Frau hasste das Zeug, und eine whiskeygeschwängerte Alkoholfahne war das Ende jeder Konversation. Also griff er zum Wodka, den er zwar nicht mochte, der aber den netten Zug hatte, seinen Konsumenten nicht zu verraten. Er ging auf die Dachterrasse, warf sich auf die Sonnenliege und hoffte, dass die frische Abendluft das Brodeln seines Blutes wieder abkühlte.

Ein Mörder bedrohte sein Leben. Drohte mit Folter. Es könnte aber auch etwas Anderes sein. Der andere hatte sich noch nicht entschieden. Ein Schuss in den Kopf? Oder lieber ins Herz? Die Hoden ab? Beweise, Staatsanwalt, Beweise! Die große Freiheit. Jeder Orgasmus könnte dein letzter sein. Genieß die verbleibende Zeit. Sein Körper auf dem blanken Stahltisch in der Pathologie, vom Gerichtsmediziner seiner Innereien beraubt, ausgenommen wie ein Suppenhuhn. Noch einen Wodka! Ekelhaft, das Zeug!

Er bemerkte noch rechtzeitig, dass er drauf und dran war, sich sinnlos zu besaufen. Das musste er umgehend stoppen, das könnte er Jenny nicht erklären. Er stand auf und stellte die Flasche wieder zurück.

Die Fähigkeit zu klarem Denken kämpfte sich durch den Alkoholschleier. Langsam drängten ein paar Widersprüche in den Vordergrund, denen bis dahin Schock und Panik sichere Deckung gegeben hatten. Da lag eine Wette in der Luft: Verbrechen gegen Gesetz, Unrecht gegen Recht. Wer würde über die größere Genialität verfügen und Sieger bleiben? Bis dahin war der Sachverhalt noch klar, aber dann wurde er undurchsichtig. Wenn sein Tod der Wetteinsatz war, dann war nicht klar, wie Koslowski seinen Triumph auskosten sollte. Tot zu sein – das würde bedeuten, dass Lukas den Wettstreit der Lebenden von einer bequemen Wolke aus verfolgen würde, hoch droben, wo man bekanntlich keine Gummimauern mehr einrennt. Das ergab doch keinen Sinn. Vielleicht doch nur dummes Geschwafel, Großmäuligkeit, um ihn in Angst und Schrecken zu versetzen.

Ein weiterer Gesprächsfetzen brachte sich in Stellung: Die Frau des alten Richters Kraus war nochmals davongekommen, weil der Richter in seiner Demenz den Schmerz über ihren Tod nicht mehr mitbekommen würde.

Dann überfiel ihn die Erkenntnis mit der Wucht eines Tiefschlags direkt in die Magengrube, nahm ihm die Luft zum Atmen und ließ ihn keuchen: Koslowski meinte vielleicht gar nicht ihn – er war hinter Jenny her!