Leseprobe 1

 

Charles Eastbourne reitet los, um Miriam zu befreien

 

 

   Die breite Allee, die Zufahrt zum Herrenhaus, ist von Baumreihen gesäumt, majestätischen Eichen, die noch der erste Eastbourne gepflanzt hatte. Zwischen den einzelnen Baumriesen mit weit ausladenden Kronen sind die verschiedensten Büsche und Sträucher gepflanzt, die bereits in voller Blüte stehen. Eine bunt blühende Pracht von atemberaubender Schönheit – für Naturliebhaber eine wahre Augenweide. Heute sind keine Naturliebhaber unterwegs, nur solche, die ein Interesse daran haben, dass die Büsche perfekte Deckung bieten.

   Eastbourne passiert im gestreckten Galopp die Maueröffnung, hält in der Mitte der breiten Allee, lässt sein Pferd mehrfach um die eigene Achse kreisen und versucht die Einzelteile des Puzzles so schnell wie möglich zusammenzusetzen. Da sind nicht mehr als gerade mal zwei Dutzend Leute auf der Lichtung. Wo sind die andern? Charles kann sich nicht beklagen über Mangel an Interesse. Mit einem lauten Aufschrei stieben die Carlyle-Männer nach allen Seiten und bleiben in respektvoller Entfernung stehen.

   Zu seiner Linken windet sich Miriam immer noch in den Armen des Mestizen, doch ihre Bewegungen sind schon recht kraftlos. Ja, Mike hat richtig vermutet: Sie ist blutüberströmt. Die Pulsadern ihres linken Armes sind aufgeschnitten. Das Blut verlässt in Strömen seine angestammte Bahn und vergießt sich nutzlos auf dem Boden. Charles versteht, dass er ohne die Hilfe des Armbrustschützen keine Chance hat, Miriam zu befreien. Er hofft inständig, dass Mike und seine Leute sich nicht irgendwo verplaudern.

   Die ganze Aktion ist ohnehin ein Akt reiner Verzweiflung. Einen Plan gibt es nicht, man hat überhaupt keine Zeit gehabt, irgendeine Strategie zu entwickeln, hat keine Idee, welche Gegebenheiten man vorfinden würde, und ob Mike mit seinen Leuten überhaupt den Gang würde verlassen können – das steht in den Sternen. Jeden Moment kann der Rest der Mannschaft aufkreuzen. Und dann...?

   Aber Charles ist trotzdem dankbar für die Chance. Es würde ihm die Gelegenheit geben, einen ehrenvollen Tod zu sterben und nicht hilflos und handlungsunfähig dem Gemetzel ausgeliefert zu sein. Nicht dass es ihm am festen Willen mangelt, Miriam zu befreien – aber er ist realistisch genug zu wissen, dass dieser Streich hier zum Scheitern verurteilt ist. Noch wichtiger ist es, dass er mit dieser Selbstmordaktion seine Würde wahren kann. Er hat die Möglichkeit, sich heroisch von dieser Welt zu verabschieden. Und wenn er Richards Blick richtig interpretiert hat, dann hat der das ebenso gesehen, und sein Abschiedsgeschenk, vielleicht auch der Versuch einer Wiedergutmachung seiner großen Schuld, ist eben diese Möglichkeit eines heldenhaften Abgangs.

   Immer noch lässt er den Pinto seine Pirouetten drehen. Seine Augen suchen Miles Carlyle, aber erst bei der dritten Umdrehung wird er fündig. Miles Carlyle liegt am Boden mit aschfahlem Gesicht, das so grau ist wie der Morgen, der immer noch nicht richtig angebrochen ist. Einer seiner Leute, ein hagerer Mensch mit Pockennarben, stützt seinen Oberkörper und seinen Kopf. Seine Hände sind auf seinen Bauch gepresst und zwischen seinen Fingern quellen in unregelmäßigen Spasmen Ströme von Blut. Seine Blicke fixieren mit unaussprechlichem Entsetzen den Reiter über ihm.

   „Eastbourne! Das gibt es nicht! Du bist tot! Der Giftpfeil...“

   Charles dankt dem Himmel für das Geschenk, das ihm hier in den Schoß gefallen ist. Geistesgegenwärtig versteht er: Carlyle hält ihn für einen Geist! Ein kurzer Blick auf die Umstehenden sagt ihm, dass seine Männer diese Möglichkeit durchaus teilen. In deren Gesichter spiegelt sich beim Anblick des Totgeglaubten das gleiche ungläubige Entsetzen wider. Wie sollen sie auch nicht! Jeder hat vor fünf Wochen das heruntergekommene menschliche Wrack gesehen, dieses lebende Fragezeichen, mit verfilzten Haaren, bärtig, verkommen, unfähig zu gehen, darauf angewiesen getragen zu werden. Und alle haben gesehen, wie er unter dem tödlichen Giftpfeil zusammenbricht.

   Und jetzt diese Gestalt! Aufrecht und stolz dominiert Eastbourne das wild tänzelnde Pferd, der Blick peitscht furchtlos und grimmig die Umstehenden und verweilt dann auf dem am Boden Liegenden. Charles fängt den zugeworfenen Ball in freiem Flug und bestätigt Carlyles Ängste:

   „Du hast recht, Miles Carlyle. Ich komme aus der Hölle, und ich bin hier, um dich zu holen!“

   Carlyles Stimme ist nur noch ein klägliches Wimmern. Er weist mit dem Kopf auf Miriam. „Sie hat mir den Bauch aufgeschlitzt. Tötet sie!“

   Der gehorsame Fußabtreter seines Herrn macht auch tatsächlich Anstalten das Messer an Miriams Kehle zu setzen.

   „Halt!“, donnert Eastbourne. „Du gibst hier keine Befehle mehr! In weniger als zehn Minuten stehst du vor deinem Richter, Carlyle, und dann wirst du Rechenschaft abgeben müssen über all die Schweinereien in deinem Leben, und das sind, weiß Gott, genug. Und jetzt willst du dir hier noch einen starken Abgang verschaffen und einen Mordbefehl geben? Die da oben werden mächtig beeindruckt sein.“

   Carlyle starrt immer noch entsetzt auf den Mann, der sein Pferd gefährlich nahe an ihm vorbeitänzeln lässt. Charles’ Worte bringen ihm zum Bewusstsein, dass seine Verletzung notwendig zu seinem Tod führen wird – eine Erkenntnis, die ihm der Schock gnädigerweise bis jetzt noch vorenthalten hat. Allmählich dämmert ihm, was das Blut hier zwischen seinen Händen zu bedeuten hat.

   „Tötet sie!“, wimmert er wieder. „Tötet sie!“

   Wo zum Teufel bleibt Mike? Wenn der hirnlose Muskelprotz das tut, was er immer schon getan hat, nämlich bedingungslos seinem Boss zu gehorchen, dann ist Miriam verloren. Charles setzt alles auf eine Karte. „Ich werde jeden mitnehmen, der es wagt, das Mädchen anzurühren.“ Seine Stimme ist die des Jüngsten Gerichts, sein ausgestreckter Arm weist auf den Mestizen, der sofort das Gefühl hat, als ob sich alle Mächte der Hölle nun auf ihn konzentrieren. Die indianische Hälfte ist fest vertraut mit Geistern, die andere, christliche Hälfte versorgt ihn mit Höllenfurcht – eine Mixtur, die Charles in die Hände spielt. Die Hand mit dem Messer entfernt sich Gott sei Dank wieder ein wenig von Miriams Kehle. Der Lange scheint ernsthaft das Risiko abzuwägen. Lohnt es sich wirklich in der Hölle zu landen wegen einem Negerweib? Ist sein Boss noch in der Lage, ihn vor dem Teufel zu schützen?

   Eastbournes Gestalt in dem weißen Hemd, das die ersten Lichtstrahlen des Morgens auf sich zieht, wirkt unwirklich wie ein Spuk. Aber Charles weiß auch, dass die Faszination seiner Erscheinung nicht ewig andauern wird. Je heller es wird, desto mehr wird er wie ein ganz gewöhnlicher Sterblicher wirken, und irgendeinen der Männer wird früher oder später das Fell jucken. Es steht zu erwarten, dass man ihm probehalber eine Kugel in den Kopf jagt, nur um zu testen, ob er wirklich ein Geist ist.

   Endlich sieht er in den Augenwinkeln und von seiner erhöhten Position vom Pferderücken aus Mike und seine fünf Männer um den Mauervorsprung heransprinten. Noch einmal muss er die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen, um den Männern die Gelegenheit zu geben, ungesehen ihre Positionen einzunehmen. Er lässt sein Pferd wieder tänzeln und wendet sich an Carlyle, dessen Gesichtszüge bereits vom Tod gezeichnet sind.

   „Du presst deine Hand auf deine Wunde. Gut. Aber spürst du, wie du immer schwächer wirst? Wie sich das Blut in deinem Bauch mit der Scheiße aus deinen zerschnittenen Gedärmen mischt? Du bist nur noch eine stinkende Kloake!“

   Carlyles Augen sind vor Entsetzen weit aufgerissen. In seiner Phantasie setzt sich Eastbournes plastische Schilderung dessen, was sich in seinem Leib abspielt, zu Bildern zusammen und erfüllt ihn mit namenlosem Grauen. „Helft mir!“ Seine Stimme ist nur noch ein Flüstern. „Tut doch was!“

   Charles beachtet ihn nicht mehr. Er muss sich dringend dem Mädchen widmen, dessen Blut immer noch fließt. Sie versucht wohl mit ihrer rechten Hand die Blutung zu verlangsamen, doch sie ist mit ihrer Kraft am Ende. Ihr Blick ist verschleiert auf ihn gerichtet und hat die vertraute Klarheit verloren. Die Zeit läuft ihm davon.

   „Lass das Mädchen los! Sofort!“ Charles bringt sein Pferd aus der Schusslinie, damit Mike ungehindert schießen kann.

   Das ist der Moment der Entscheidung. Der Lange ist ratlos. Er ist es gewohnt an Carlyles Lippen zu hängen und die Befehle umzusetzen, die dessen Mund verlassen. Dass jemand anderes Befehle ausspuckt, ist außerhalb seines überschaubaren Erfahrungshorizonts und stellt ihn vor eine intellektuelle Zerreißprobe. Muss man auch Geisterreitern aus der Hölle gehorchen? Doch Mike gibt ihm prompt eine überzeugende Entscheidungshilfe: Ein Pfeil, abgeschossen von einer Armbrust, zischt so nah am Kopf des Halbindianers vorbei, dass er den Luftzug spürt. Ein Raunen geht durch die Reihen. Die Männer drängen sich instinktiv noch weiter zurück. Der Pfeil kommt aus dem Nichts. Durch das Mauertor ist niemand gekommen, der gespenstische Reiter ist der einzige gewesen. Da sind sich alle sicher. Und jetzt schießen die Rhododendrenbüsche mit Pfeilen! Das Entsetzen kehrt in die Gesichter der Männer zurück.

   Der Mestize lässt das Mädchen los, blickt sich hektisch um, wagt aber nicht mehr, sich weiter zu bewegen. Hilflos steht er an seinem Platz. Er mag wohl ein großer Kämpfer sein – die Masse seines Gehirns ist der seiner Körpermuskeln offenbar diametral entgegengesetzt. Miriam ist noch bei Bewusstsein, aber sie taumelt. Eastbourne spielt einen Moment mit dem Gedanken, sie zu sich auf das Pferd zu ziehen, aber den Gedanken lässt er schnell wieder fahren. Da werden seine Gliedmaßen nicht mitspielen, und Miriam selbst ist bereits zu schwach, um sich auf sein Pferd zu schwingen. Eine verpatzte Aktion würde seinen Nimbus des Höllenreiters sofort zerstören.

   „Bringt sie ins Schloss!“, befiehlt Charles den Rhododendrenbüschen. Jetzt muss alles schnell gehen. Mike und Tom springen aus der Deckung, und mit einer erstaunlichen Präzision läuft Miriams Rettung ab. Mike gleitet geschmeidig hinter den Mestizen und streichelt mit seinem Messer dessen Kehle, entwindet ihm mit einem energischen Ruck sein Messer und zieht ihm seine Jacke halb herunter, so dass seine Arme blockiert sind.

   „Du sagst jetzt deinen Leuten, dass sie die Füße still halten sollen, sonst bist du dran. Wenn einer es wagt, zu den Waffen zu greifen, dann schneid ich dir die Kehle durch!“

   Mike sagt es leise und freundlich. Er will Eastbourne nicht die Show stehlen. Der hat das Sagen, und der macht seine Sache verdammt gut. Tom packt das Mädchen, hebt es behutsam auf den Arm und geht mit schnellen Schritten in Richtung Mauerportal. Mike folgt ihm, rückwärts gehend. Er lässt die Bande nicht aus den Augen. Den Mestizen, immer noch sein Messer am Hals, nimmt er mit.

   Der Lange räuspert sich. „Keiner rührt sich! Verstanden? Finger weg von den Waffen!“

   Tatsächlich stehen die Männer wie versteinert, allerdings weniger, weil sie um das Leben des Mestizen besorgt sind, als vielmehr, weil sie die ganze Situation komplett überfordert. Wann hatte man es je mit Geistern zu tun gehabt?

   Charles versteht, dass die Geiselnahme keine schlechte Idee ist. Eine zweite ist vielleicht ebenfalls von Vorteil. Die Mehrzahl der Männer steht zu weit entfernt, aber der Mann, der Carlyle den Oberkörper hält, ist noch in Reichweite. Es mag wohl nicht als christliche Tugend durchgehen, dem Sterbenden seinen letzten Halt zu rauben – aber Carlyle ist bereits auf der Schwelle, die Welten zu wechseln. Es kommt wohl nicht mehr so sehr darauf an. Wieder gibt er den Rhododendrenbüschen einen Befehl:

   „Den auch noch!“

   Die Büsche spucken einen weiteren Mann aus, und weil ein Messer an der Kehle eine so große Überzeugungskraft besitzt, entschließt sich der Pockennarbige, der freundlichen Einladung zu folgen. Er lässt Carlyle vorsichtig ins Gras gleiten, sagt etwas, was Charles nicht verstehen kann und folgt widerstandslos.

   Zum ersten Mal beginnt Charles an seine Chance zu glauben. Der Überraschungseffekt ist zuverlässig immer noch auf seiner Seite, die Dunkelheit noch schützend genug, um den Männern in den Büschen den Rückzug zu ermöglichen. Hoheitsvoll wendet er sein Pferd und reitet knapp an Carlyle vorbei. „Gehab dich wohl, Miles Carlyle“, donnert noch einmal seine Stimme. „Wir sehen uns in der Hölle wieder! Und wenn du drüben ankommst, dann stehen Maureen und mein Sohn ganz vorne in deinem Empfangskomitee. Zusammen mit all den andern, die du auf dem Gewissen hast. Verlass dich drauf! Du solltest dir schon mal ein paar saubere Ausreden einfallen lassen. Vielleicht fallen die da drüben drauf rein!“

   Der Blick des vom Tod Gezeichneten gewinnt noch einmal an Schärfe, als er Charles’ Augen sucht und unverwandt durch ihn hindurchblickt. Mühsam versucht er sich aufzurichten.

   „Eastbourne!“, flüstert er. „Du warst der Fluch meines Lebens!“ Dann fällt er in sich zusammen.

   Charles’ Abgang ist von unnachahmlicher Arroganz. Er verschwendet an diesen primitiven Pöbel dort auf der Lichtung nicht mehr den geringsten Blick und reitet auf seinem tänzelnden Hengst Richtung Mauerportal, als ob alle Pfeile der Welt und sämtliche Kugeln obendrein ihn einen Dreck interessieren, so unverwundbar wie er als Geist nun mal ist. Dass er Blut und Wasser schwitzt, kann die Meute hinter ihm nicht mehr sehen. Er muss eisern jedes Geräusch ignorieren, muss dem Drang widerstehen, seinem Pferd die Sporen zu geben und sich mit ein paar mächtigen Galoppsprüngen in Sicherheit zu bringen. „Reiß dich bloß zusammen“, sagt er sich. Vor sich sieht er, wie Tom mit Miriam auf dem Arm bereits den Graben erreicht. Noch ein paar Schritte, und Miriam wird in Sicherheit sein. Seine Sorge gilt auch den Schützen in den Büschen, deren Rückzug auch nicht ungefährlich ist. Sie müssen warten, bis Charles hinter der Mauer verschwunden ist. Sein breiter, arrogant-schutzlos präsentierter Rücken ist eine freundliche Einladung ihm zum Abschied noch eine Kugel hinterherzuschicken.

   Tatsächlich greift einer der Carlyle-Leute nach seiner Waffe, will diese Demütigung nicht unwidersprochen hinnehmen und zielt. Da trifft ihn der Pfeil aus den Büschen in den Arm. Es ist einer der letzten Giftpfeile, die den Attenborough-Leuten noch zur Verfügung stehen. Mit einem Schrei lässt der Getroffene die Waffe fallen und versucht verzweifelt, den Pfeil aus der Wunde zu ziehen. Er hat verstanden, dass dies sein Todesurteil sein wird. Einige der Umstehenden kommen ihm zu Hilfe. Wie viele Pfeile noch in diesen verdammten Büschen sitzen, ist nicht auszumachen. Besser man versucht sein Glück nicht noch einmal.

   Für Mikes Männer ist dies der ideale und auch letztmögliche Moment für den Rückzug. Die Aufmerksamkeit der Leute auf der Lichtung verteilt sich gleichmäßig auf Miles Carlyle, der seinen letzten Kampf kämpft, und dem vom Giftpfeil Getroffenen, der den gleichen Weg vor sich hat. Die drei Schützen entfernen sich im Schutz der Dämmerung, die ihnen bald keine Deckung mehr geben wird, und verschwinden lautlos hinter dem Mauervorsprung. Von dort sind es noch gute zweihundert Yard bis zum Eingang der Höhle, die können im Sprint zurückgelegt werden. Schließlich ist man außerhalb des Sichtfelds der Lichtung. Jetzt können sie nur noch vom Lager aus gesichtet werden, aber dort ist niemand mehr. Alle Mann stehen auf der Lichtung und versuchen wieder Boden unter die Füße zu bekommen und zu verstehen, was gerade passiert ist. Sichernd blicken sich die drei um – niemand zu sehen. Dann verschwinden sie im Gang.

*

 

 

 

 

   Leseprobe 2

 

Gespräch am Sterbebett der alten Sklavin Thilda

 

   (...)

   Als er vom Fenster aus im Park unten Ann und ihr Baby sah, beschloss er, den Stier bei den Hörnern zu packen.

   „Ann, weißt du, wo Miriam ist? Ich habe sie schon überall gesucht.“

   Ann zögerte einen Moment mit der Antwort, doch dann sagte sie:

   „Sie ist in einer der Hütten bei den Sklaven. Lass sie! Sie kann jetzt nicht weg.“

   „Warum?“, fragte er verständnislos.

   „Sie will eine Aufgabe zu Ende bringen“, sagte Ann ernst. Mehr war aus ihr nicht herauszubringen.

   Charles war nun doch neugierig geworden. Schon seit mehreren Tagen hatten sie keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu plaudern, und er fühlte, wie gut ihm diese Gespräche taten. Da war einmal die lockere Heiterkeit, die immer mitschwang, wenn sie mit ihm sprach. Er war süchtig nach ihrer unaufdringlich-humorigen Art zu flirten. Er genoss die neue Miriam, die ihn bei seinem Vornamen anredete, wodurch die Illusion von ‚gleich zu gleich’ hergestellt wurde, eine kluge, selbstbewusste junge Frau, die ihm in ihren diversen Wortgefechten nichts schuldig blieb. Er brauchte nur die Augen zu schließen und Miriams Blicke, die tief in sein Innerstes vorzudringen schienen, fesselten ihn wieder. Solche Augen – die gehörten verboten. Die konnten einen wahnsinnig machen. Wenn er einen klaren Moment hatte, bei dem er absolut ehrlich zu sich selbst war – und diese Augenblicke häuften sich in erstaunlicher Weise in der letzten Zeit – dann gestand er sich sogar ein, dass er nicht mehr los kam von ihr. Sein Leiden an dem Gedanken, dass Attenborough und seine Leute Eastbourne Castle verlassen könnten, hatte in erster Linie etwas mit dem Verlust von Miriam zu tun. Welch ein Glück, dass dieses Damoklesschwert nun in einer Abstellkammer verrosten durfte!

   Aber ein anderer, mindestens ebenso wichtiger Punkt verstärkte noch sein Bedürfnis nach Kontakt mit ihr. Er war sich bewusst, dass er jedes ihrer Gespräche noch bestens im Gedächtnis hatte. Er bemerkte zu seinem Erstaunen, dass diese Gespräche nicht nur in ihm nachklangen, sondern dass sie sogar ein Eigenleben entwickelten, sich selbst fortführten und seine Gedanken beflügelten. Wenn er an die wunderbar oberflächlichen Gespräche mit den Gespielinnen seiner Vergangenheit dachte – die waren so schnell vergessen wie der Ritt bis nach Hause dauerte. Und meistens schon schneller. Eine Ausnahme machten natürlich die Gespräche mit Maureen. Davon hatte er auch kein einziges Wort vergessen.

   ‚Sie kann mir mein Leben erklären, mit ganz einfachen Worten’, dachte Charles. ‚Was für ein unglaubliches Mädchen!’

   Er war bei den Sklavenhütten angekommen, die alle leer waren. Wieso auch nicht – die Männer waren auf den Plantagen, die Mädchen in der Küche. Was hatte er erwartet? Er öffnete der Vollständigkeit halber alle Türen mit energischem Schwung.

   Bei der Hütte der Frauen wurde er fündig.

   Die Fenster zur Sonnenseite waren verhangen, um die gleißende Helligkeit daran zu hindern, das Zimmer mit Licht zu durchfluten und womöglich einen Hauch von Freude zu verbreiten, die nicht angebracht war. Der Raum war in ein diffuses Halbdunkel getaucht, was der Gegebenheit eher entsprach: Ein Leben neigte sich seinem Ende zu. Da war die Sonne nicht mehr gefragt. Die stand für Energie und Schaffenskraft, für Heiterkeit und Lebensfreude, doch das gehörte der Vergangenheit an. Der Mensch auf der Liege am Kopfende des Zimmers bereitete sich auf das vor, was ihm bevorstand: die tiefe Dunkelheit. Die lange Nacht. Die große Ruhe.

   Die alte Thilda erwartete ihren Tod. Er war nicht überraschend gekommen. Er hatte sich seit langem schon angekündigt, und jetzt stellte er sich ein zum letzten Rendezvous. Es gab keine Möglichkeit mehr, ihn zu vertrösten. Aber das hätte die alte Thilda ohnehin nicht gewollt. Für alles gibt es eine Zeit, auch für das Sterben. Und die war gekommen.

   Zu ihrer Rechten saß Miriam und hielt ihre Hand. Als die Tür aufflog und Charles mit großen Schritten den Raum betrat, entging ihm zunächst das Weihevolle der Stimmung.

   „Ach, hier bist du. Ich habe dich überall gesucht.“

   Miriam ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann entgegnete sie mit leiser Stimme:

   „Brauchst du mich? Kann ich etwas tun für dich?“

   Unwillkürlich passte er sich der Lautstärke ihrer Stimme an.

   „Aber ja. Du könntest mit mir zu den Baumwollplantagen reiten. Die Kapseln sind aufgebrochen. Ich sage dir: Das ist ein phantastischer Anblick. Das musst du sehen. Alles ist weiß, als ob es geschneit hätte.“

   Miriam schüttelte den Kopf. So sehr sie sich freute, dass ihn die Schönheit eines solchen Naturschauspiels begeisterte – sein Vorschlag kam zur Unzeit.

   „Ich kann hier nicht weg“, sagte sie leise, aber bestimmt.

   „Was ist denn los?“, fragte Charles. „Ist sie krank?“

   Ihm wurde bewusst, dass er die alte Sklavin, die dort auf dem Bett lag, aus seinem Personenverzeichnis komplett gestrichen hatte. Dass Chloe, Kate und Mary zu seiner Dienerschaft gehörten – das war ihm bewusst. Die alte Thilda hatte nicht mehr die Ehre, von ihm wahrgenommen zu werden.

   „Nein, Charles. Sie macht sich bereit, den letzten großen Schritt zu machen. Den in die große Stille.“

   „Sie stirbt?“ Miriam nickte bloß.

   „Kennst du denn diese Sklavin?“

   „Ich weiß, dass sie Thilda heißt. Sonst nichts.“

   Es gelang ihm gerade noch so, ein bestätigendes „Na also!“ zurückzuhalten. Kein Grund auf einen angenehmen Ausritt zu verzichten, wenn man einen kaum kennt! Aber er schluckte im letzten Moment die dumme Bemerkung runter. Trotzdem lag sie in der Luft.

   Da war er wieder, dieser Charakterzug an Charles, der Miriam störte: diese herablassende Geringschätzung des Einfachen, die auch vor den Menschen nicht haltmachte, die einfach waren. Einfach – gemessen an seinen hohen Maßstäben.

   „Kennst du sie?“, fragte Miriam.

   „Nicht sehr“, bekannte er vorsichtig. Mal wieder nicht unbedingt ein Ruhmesblatt, wenn man seine eigenen Leute nicht recht kennt.

   „Sie lebt schon seit vielen Jahren in deinem Schloss. Früher, als es noch besser ging, hat sie dein Essen gekocht. In den letzten Jahren hat sie deine Wäsche gewaschen und ausgebessert und einiges andere mehr.“

   „Aha!“, sagte er. Viel mehr fiel ihm dazu nicht ein. Er war nicht unbedingt beeindruckt. Dazu waren Sklaven schließlich da.

   Allmählich griff die bedrückende Atmosphäre, die der Tod verbreitete, auch auf Charles über. Er schaute sich beklommen um, ob er den Tod irgendwo leibhaftig in der Ecke stehen sehe, aber das pflegt der in der Regel nicht zu tun. Der lauert unsichtbar und schickt lediglich eine Ahnung von seiner Anwesenheit in den Raum. Charles fühlte sich furchtbar unwohl und hatte es eilig, die Hütte wieder zu verlassen.

   „Ach, komm schon, Miriam. Nur zwei Stunden. Na gut, nur eine Stunde! Das wird dir auch gut tun, und die Alte wird sicher so lange noch durchhalten, bis du wieder da bist.“

   Miriam schüttelte den Kopf. „Ich lass sie nicht allein.“

   „Wenn du willst, werde ich Chloe anweisen, dass sie bei ihr bleiben soll. Wir sind doch bald wieder zurück.“

   „Das geht nicht. Chloe hätte zu viel Angst.“

   „Angst? Wovor?“ Er war wirklich hartnäckig.

   „Es ist nicht einfach, jemanden an die Hand zu nehmen, der diese Welt verlassen will.“

   Allmählich sah er ein, dass er mit seinem Wunsch auf verlorenem Posten stand. Miriam würde sich nicht von der Stelle rühren. Er überlegte kurz, ob er diesen düsteren Ort verlassen sollte, dann entschied er sich dagegen. Wenigstens war er in ihrer Nähe – auch wenn ihre ganze Konzentration der alten Frau galt, die mit geschlossenen Augen auf der Liege lag. Die einzigen Lebenszeichen bestanden in einem sporadischen Zucken der Augenlider. Dann fasste die Hand der Alten wieder krampfhaft nach der von Miriam.

   Charles griff resigniert nach einem Stuhl und setzte sich auf die andere Seite des Bettes. Immer noch etwas ärgerlich, dass er wegen einer sterbenden Sklavin um den Ausritt kam, auf den er sich so gefreut hatte, fragte er:

   „Was soll daran so schwer sein, – wie hast du dich ausgedrückt? – jemanden an die Hand zu nehmen, der stirbt?“

   Miriam löste ihre Augen von der Alten und wandte sich ihrem Gegenüber zu.

   „Ich habe das im übertragenen Sinn gemeint. Dass ich jetzt ihre Hand halte, ist nur eine Äußerlichkeit, die sie beruhigen soll.“

   „Und was hast du wirklich gemeint?“

   Miriam zögerte wieder mit der Antwort. Es war nicht einfach, die richtigen Dinge zu sagen, ohne Gefahr zu laufen als verrückt zu gelten. Andererseits hatte sie genügend Vertrauen zu Charles, dass sie glaubte, die Wahrheit – ihre Wahrheit! – sagen zu dürfen, ohne dass er sie auslachte.

   „Ich rede mit ihr. Unsere Seelen oder auch unser Geist, wie du willst, wir treffen uns an einem Ort, den niemand kennt. Und dann reden wir miteinander.“

   Er war verblüfft über diese Antwort. Aber ein ungläubiges Lachen blieb aus.

   „Wie kommst du zu diesem Ort?“ Diese Frage, die ihr sagte, dass er sie ernst nahm, war ein gutes Zeichen. Sie hatte sich nicht getäuscht in ihm.

   „Ich weiß es nicht. Wissen kann nur der Verstand. Aber der hat mit der Sache nichts zu tun.“

   „Was passiert da? Über was redet ihr?“ Er war nicht wirklich überzeugt, aber interessiert.

   „Sie bereitet sich darauf vor zu erklären, wie sie ihre Lebensaufgabe gelöst hat.“

   „Wem erklären?“

   „Das weiß ich nicht.“

   „Sie wird sich damit beeilen müssen. Wenn das Herz aufhört zu schlagen, dann ist es zu spät.“

   Wieder entstand ein längeres Schweigen, ehe Miriam antwortete:

   „Ich glaube, dass es umgekehrt ist.“

   Er hatte bereits den Faden verloren. Die Pause war zu lange gewesen, und seine Gedanken hatten sich sprunghaft schon wieder etwas anderem zugewandt. „Was ist umgekehrt?“

   „Wenn der Geist bereit ist zu gehen, dann wird er dem Herzen sagen, dass es aufhören kann zu schlagen. Nicht umgekehrt.“

   Er schaute sie verwundert an. „Das ist eine recht eigenwillige medizinische Erklärung“, sagte er verblüfft, „der jeder Arzt widersprechen würde.“

   „Ich verstehe nichts von Medizin“, sagte Miriam einfach und widmete sich wieder der alten Frau.

   ‚Na, das sehe ich anders’, dachte Charles, sagte aber nichts und respektierte die Stille, in die Miriam wieder eintauchte.

   „Woher weißt du das alles?“, fragte er nach einer Weile.

   „Die alte Blanche hat oft mit mir darüber gesprochen. Beweise gibt es natürlich nicht. Aber ich glaube zu spüren, dass es so ist.“ Dann versank sie erneut in Schweigen.

   Wieder spielte er mit dem Gedanken aufzustehen und der bedrückenden Atmosphäre den Rücken zu kehren. Irgendwelche heiteren Gespräche waren nicht zu erwarten. Miriam interessierte sich offenbar nur für die Sterbende. Er fühlte sich im zweiten Glied, unwichtig, überflüssig, deplaciert. Doch auch dieses Mal besann er sich anders und blieb. Warum, konnte er auch nicht sagen. Nach einer Weile meldete er sich wieder zu Wort.

   „Was hast du überhaupt mit ‚Lebensaufgabe’ gemeint?“

   Er wartete geduldig auf die Antwort, bis Miriam ihr virtuelles Gespräch mit dem Jenseits beendet hatte und sich ihm wieder zuwandte.

   „Ich glaube, dass es kein Zufall ist, in welches Leben wir hineingeboren werden. Wir müssen lernen, eine oder auch mehrere Aufgaben zu erfüllen. Aufgaben, bei denen wir vielleicht in einem früheren Leben versagt haben.“

   „Du glaubst daran, wiedergeboren zu werden?“

   Miriam nickte. „Da bin ich mir ganz sicher. Alles andere ergibt keinen Sinn.“

   „Und wie unser nächstes Leben aussieht, das ist abhängig davon, wie wir unser jetziges leben?“

   „Möglich. Ich könnte mir das ohne weiteres vorstellen.“

   „War das der Grund, warum du so heftig reagiert hast, als ich davon gesprochen habe, mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen?“

   Miriam nickte. „Du hättest bei einer wichtigen Aufgabe versagt, wärst davongelaufen. Ich bin sicher, du hättest sie in einem nächsten Leben wiederholen müssen.“

   ‚Gut, dass es nicht dazu gekommen ist!’, dachte er. ‚Nochmals durch diese Hölle gehen...’

   Jetzt versank er in Schweigen. Er hätte gleich den Raum verlassen sollen. Jetzt war es zu spät. Jetzt fingen ihn die Gedanken ein und ließen ihn nicht mehr los. Dass es mehrere Leben geben sollte – das war nie ein Thema für ihn gewesen. Er hatte das Glück, auf der sonnigen Seite des Lebens geboren zu sein, und das genügte ihm. Dass sein jetziges Leben den Ausgangspunkt für ein nächstes schaffen sollte, beunruhigte ihn etwas. Er wusste jedoch noch nicht warum. Er überließ sich dem Schweigen. Die Minuten dümpelten dahin, ohne dass er sie festhalten konnte.

   Miriam war diejenige, die jetzt die Stille unterbrach.

   „Geht es dir gut?“

   „Ich weiß nicht. Vor einer halben Stunde ging es mir besser.“

   „Wenn es zu viel für dich ist, dann solltest du vielleicht besser das Zimmer verlassen.“

   Das kam nun auf keinen Fall in Frage. Flucht vor dem Feind – kein Thema! Nur hatten sich seine diversen Begegnungen mit dem Tod in der Vergangenheit immer anders abgespielt. Bei seinen Kämpfen mit Finn gegen die Banden oder auch bei dem letzten Glanzstück, als er unbewaffnet in die feindliche Horde reingeritten war, um Miriam zu retten – da hatte er auch dem Tod gegenüber gestanden, Auge in Auge. Charles hatte ihm scherzhaft zugezwinkert und sich dann davon gemacht. „Bis dann, alter Junge, auf mich musst du noch warten. So schnell bekommst du mich nicht.“

   Doch diese Beklemmung, die er jetzt empfand, war anders. Der Tod, der hier unsichtbar im Raum stand und ihm vielleicht über die Schulter blickte, hatte nichts mit ihm zu tun. Er war nicht wegen ihm gekommen, und trotzdem war er befangener als damals, als er ihm selbst ins Auge blicken musste, als sein eigenes Leben nicht mehr als ein Fliegendreck wert war. Was verstörte ihn so? Vielleicht weil es nicht nur um den Tod an sich ging, sondern um das, was folgte. Bis in jenseitige Gefilde waren seine oberflächlichen Gedankengänge nie gediehen.

   Die alte Sklavin lag immer noch unbeweglich auf ihrem Lager. Manchmal sah man durch die geschlossenen Lider, wie ihre Augäpfel aufgeregt rollten und der Atem stoßweise ging. Dann beugte Miriam sich über sie, und er ging jede Wette ein, dass sie im Geiste beschwörend auf die Alte einsprach. Er fühlte sich weit außerhalb der Szenerie.

   „Was ist mit ihr?“, fragte er.

   „Sie hat immer noch Angst“, antwortete Miriam leise.

   „Wovor? Was kann sie groß falsch gemacht haben in ihrem Leben? Sie war doch nur eine Sklavin, die getan hat, was man ihr auftrug.“

   „Das mag sein“, antwortete das Mädchen. „Aber auch ein solches Schicksal kann man auf unterschiedliche Art tragen. Man kann aufbegehren, man kann dagegen ankämpfen, man kann es geduldig ertragen – es gibt viele Möglichkeiten.“

   „Und welche ist die richtige?“

   „Das kann niemand sagen. Jede vielleicht. Das ist eben abhängig davon, was du lernen musst.“

   „Aber wenn ich gar nicht weiß, was ich lernen soll?“

   „Du denkst zuviel mit deinem Verstand. Der wird dir nicht weiterhelfen in der Sache. Tief in dir, deine Seele, dein Selbst wird wissen, was deine Aufgaben sind. Aber alles wird wohl auf eines hinauslaufen.“

   „Worauf?“

   „Füreinander da zu sein. Welche Rolle man in der Gemeinschaft gespielt hat. Wie viel man anderen gegeben hat.“

   Charles betrachtete zum ersten Mal wirklich aufmerksam die sterbende Sklavin vor ihm. Sie hatte ihr Leben lang gedient, unfrei, gedemütigt, geknechtet. Welches Leben hatte sie wohl vorher geführt, dass ihr ein solches Los in diesem Leben beschert wurde? War sie herzlos anderen gegenüber gewesen, selbstsüchtig, egoistisch, so dass sie nun ein Leben lang gezwungen gewesen war zu erfahren, was es bedeutete, dienen zu müssen, reduziert zu sein auf ein simples Funktionieren? Sie musste auf jeden Dank verzichten, der einen wieder ein wenig aufrichtete, der einem einen Anflug von Selbstwertgefühl zurückgab. Wo war das Gefühl, irgendetwas wert zu sein? Was für ein grausames Los, als ein Nichts angesehen zu werden von Menschen, die das Glück überreich bedacht hatte!

   Und dann durchzuckte ihn ein übler Gedanke: Vielleicht war sie eine genusssüchtige, oberflächlich dem Vergnügen lebende Aristokratin gewesen! Der Gedanke löste eine große Unruhe in ihm aus, auch wenn er sich hundertmal ins Gedächtnis rief, dass es sich hier doch nur um unbewiesene Gedankenspielchen handelte, dass er sich auf unsicherem Boden bewegte, auf gedanklichem Treibsand, der nicht für sich in Anspruch nehmen konnte, als solide Basis für eine auf Fakten aufgebaute Lebensphilosophie zu dienen.

   Aber kann eine Lebensphilosophie überhaupt auf Fakten aufgebaut sein? Wohl nicht! Die wirklich wichtigen Elemente entziehen sich jeder Beweisbarkeit. Der Verstand, der alles leugnete, was nicht faktisch zu belegen war, war ein schlechter Ratgeber. Was war, wenn es mehr gab als das, was mit dem Verstand beweisbar war? Selbst ein kluger Kopf wie Charles’ Lieblingsdichter Shakespeare ließ seinen Hamlet vermuten, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab als unser biederer Verstand erfasste.

   Miriam konzentrierte sich wieder auf die alte Frau, die regelmäßiger zu atmen begann. Langsam öffneten sich ihre Augen. Sie versuchte sich zu orientieren. Es sah aus, als käme sie von weit her und müsse sich erst klar werden, wo sie war. Sie spürte Miriams Hand und wandte sich dem Mädchen zu. Sie lächelte ein altes, runzeliges, zahnloses Lächeln. Dann sah sie aus den Augenwinkeln, dass auf der anderen Seite ihres Bettes noch jemand saß. Langsam wandte sie den Kopf in Charles’ Richtung – und erschrak. Ihre Augen weiteten sich, der Druck auf Miriams Hand verstärkte sich, als ob sie um Hilfe nachsuchte.

   Charles war ihre Reaktion nicht entgangen. Blut schoss ihm in den Kopf, und ein Knoten zog ihm die Brust zu. Er empfand tiefe Betroffenheit und ebenso tiefe Beschämung. Furcht löste er bei seinen Untergebenen aus, Erschrecken, vielleicht sogar Entsetzen! Was hatte er in der Vergangenheit seiner Dienerschaft gegeben? An Güte? An Anerkennung? An Nachsicht? An Toleranz? An Mitgefühl für ihren Stand und ihr Elend? Wann wäre er je für sie da gewesen? Die Tatsache, dass die Antwort auf all diese Fragen eine glatte Nullmeldung ergab, machte ihm zu schaffen. Er beugte sich über die alte Sklavin.

„Wenn du nicht willst, dass ich hier bin, dann sag es ruhig. Ich werde dann gehen.“

   Miriam schaute ihn an und war glücklich. Trotz seiner Betroffenheit, die ihr nicht entgangen war, fand er die richtigen Worte, bereit, sich selbst zurückzunehmen und zu akzeptieren, dass in dieser Stunde nur noch das zählte, was die sterbende Sklavin wollte. Die Blicke der Alten suchten wieder Miriams Augen, als wolle sie ihren Rat.

   „Schick ihn nicht weg. Er macht alles richtig. Er wird dir helfen bei deinem letzten Schritt“, sagte Miriam leise, und Charles fühlte eine Anwandlung von Freude, ja von Stolz über dieses Lob.

   Die alte Thilda erwiderte nichts. Die Fähigkeit zu sprechen hatte sie bereits verlassen. Ein klagender Seufzer löste sich, den Charles nicht einordnen konnte. Ihre linke Hand fuhr fahrig durch die Luft, als ob sie unsichtbare Wesen verscheuchen wolle. Spontan griff Charles nach ihrer Hand und hielt sie fest. Die Alte schaute ihn wieder an, aber diesmal war kein Entsetzen mehr erkennbar. Friede überkam sie, und sie schlief wieder ein.

   Eine tiefe Stille legte sich erneut über die Szenerie. Miriam und Charles hielten beide die Hände der alten Frau und hingen ihren Gedanken nach. Dieses unwirkliche Versinken in eine Zeit, die unmerklich verrann, kam einem Dümpeln im Wasser gleich, wo die Schwerkraft aufgehoben war und das Gewicht des Körpers nicht mehr zählte. Charles empfand keine Langeweile mehr, obwohl die Zeit verstrich, ohne dass er irgendetwas anderes tat, als die Hand der Sterbenden zu halten. In einer überschaubar kurzen Zeit würde das Leben der alten Sklavin abgelaufen sein. Sie hatte keine Möglichkeit mehr noch irgendetwas zu ändern. Was getan war, war unabänderlich, was versäumt war, war nicht mehr nachholbar. So ist das nun mal mit der Zeit. Und während die der alten Thilda aufhörte zu existieren, ging sie für ihn weiter, bis er irgendwann einmal so wie die Alte dort liegen würde, auf der Schwelle zu einer neuen Daseinsform, bei der er aber zuerst auch würde Rechenschaft darüber ablegen müssen, ob er seine Lebensaufgabe bewältigt hatte. Müsste er auch Angst haben? Er wusste, kein Mut und keine Tapferkeit der Welt könnten ihm mehr helfen. Die große letzte Rechenschaft machte andere Eigenschaften erforderlich. Verfügte er über die, wenn es darauf ankam? Er ging auf in seinem Grübeln, in seiner Zwischenbilanz, die er für sich selber zog und die ihn beunruhigte.

   Er versuchte seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, aber das gelang nicht so recht. Immer wieder landete er bei dem gleichen Ausgangspunkt: seine Lebensaufgabe! Eine ganze Zeit lang wagte er es nicht, die Stille zu unterbrechen, aber dann ließ sich die drängende Frage nicht mehr zurückhalten. Seine Stimme war auf ein Flüstern reduziert, um die weihevolle Ruhe nicht zu stören, die die Sterbende umgab.

   „Was glaubst du: Wie sieht meine Lebensaufgabe aus?“, fragte er Miriam, als er fühlte, dass er aus seiner gedanklichen Sackgasse nicht mehr herausfand.

   „Das weiß ich nicht. Das kannst nur du wissen.“ Miriams Augen blickten aufmerksam, als sie zu ihm aufsah. Ihr wurde bewusst, dass sich der Mann ihr gegenüber ernsthaft mit Dingen befasste, die sein tiefstes Inneres aufgewühlt hatten und die ihm völlig neu waren. Hier setzte sich einer mit den Fundamenten seines Lebens auseinander. Und sie spürte seine Sorge, diese könnten sich als brüchig erweisen.

   „Thilda hat doch ein viel schwereres Leben gehabt als ich“, sagte er etwas ratlos.

   „Ihr Los war vielleicht schwerer, aber ob deine Aufgabe die leichtere ist – das ist nicht sicher.“

   „Was meinst du damit?“, fragte er.

   „Ich glaube, dass es nicht einfach ist, ein reicher und gleichzeitig ein guter Mensch zu sein.“

   Charles spürte einen schmerzhaften Stich in seinen Eingeweiden wüten. Was sie da gesagt hatte, kam einem vernichtenden Urteil gleich.

   „Du glaubst, dass ich kein guter Mensch bin?“

   Miriam wandte ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu. Sie erfasste die Bestürzung, die in seiner Frage lag. Zum ersten Mal lächelte sie ihn an. Sie liebte ihn mehr denn je, gerade wegen seiner Unsicherheit, die er in diesem Moment an den Tag legte.

   „Oh, nein, Charles Eastbourne. Das glaube ich nicht. Ich bin sogar ganz sicher, dass du ein guter Mensch bist.“

   „Da bist du optimistischer als ich es bin.“

   „Glaub mir, du bist viel zu streng mit dir.“

   „Dann wäre reich und mächtig zu sein ja eher ein Fluch als ein Segen.“

   „Ich habe doch nicht gesagt, dass es sich ausschließt. Ich habe nur gesagt, dass es schwerer ist, nicht dass es unmöglich ist. Denk daran, wie viel Gutes du allein in der letzten Zeit getan hast. Du hast einer einfachen Sklavin das Leben gerettet, indem du dein eigenes in die Waagschale geworfen hast. Du hast Zacharias begnadigt und sein Leben verschont. Du hast den Eindringlingen, die in dein Schloss eingefallen sind, die Hand zur Freundschaft gereicht. Du hast Master Richard und Mrs. Ann die schönsten Räume in deinem Schloss zum Wohnen angeboten. Wie kannst du zweifeln, dass du ein guter Mensch bist?“

   „Weil ich von all dem auch einen Vorteil habe. Richard zum Freund zu haben – das ist ein großes Glück.“

   „Aber sieh doch, was du als Glück bezeichnest: Freundschaft. Das ist doch ein hoher Wert.“

   Er wollte gerade dagegen halten, dass er in Richard auch den Verteidiger seines Schlosses sah, aber das wäre nicht ganz wahr gewesen. Das Bedürfnis nach Richards und Mikes Freundschaft hätte auch ohne Carlyles Bedrohung Bestand.

   „Du kennst meine Vergangenheit nicht. Ich war alles andere als das, was du als ‚guten Menschen’ bezeichnen würdest.“

   Miriam schüttelte den Kopf. „Das ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist nur, was für ein Mensch du jetzt bist. Und ich sehe einen Menschen mit wundervollen Eigenschaften vor mir.“ Er hörte ihre Worte, ohne dass er ihnen erlaubte, Balsam für seine selbstquälerischen Grübeleien zu sein. Vielmehr beharrte er in geradezu masochistischer Manier darauf, sich selbst herabzusetzen.

   „Du weißt nicht, wovon du redest. Es gibt genügend Dinge, auf die ich nicht besonders stolz bin.“

   „Welche Wege du gegangen bist, oder gehen musstest, um das alles abzuschütteln, das ist egal. Wichtig ist nur, wie du dich verändert hast. Nur das zählt, was am Ende steht.“

   Was für eine gefällige Erklärung! Hörte sich gut an. Trotzdem fand er, dass Miriams Sehensweise seiner Person zu positiv ausfiel. Aber er wollte das Thema jetzt nicht vertiefen. Im Augenblick zählte nur die alte Thilda.

   Der Abend brach herein, und die Sklaven kamen von den Plantagen. Sie wussten um Thildas letzten Kampf. Sie war ein Teil ihres Lebens, und die Veränderung, die mit ihrem Weggang eintreten würde, erfüllte sie mit Trauer. Die Alte war eine geduldige, ehrliche Haut gewesen, immer bereit zu helfen, und die Schwarzen hatten sie in ihr Leben mit einbezogen. Sie hatten ihr jede Hilfe zukommen lassen, als es in den letzten Monaten immer weniger wurde. Kate und Mary mochten die Alte auch, aber sie fürchteten sich doch, wenn sie die Nacht in der gleichen Hütte verbringen mussten, in die auch der Tod schon eingezogen war. Sie waren froh, wenn sie am frühen Morgen wieder ins Herrenhaus zurück durften. Alle waren zutiefst erleichtert, als Miriam sich anbot, sich um die Alte zu kümmern.

   Die Tür zu Thildas Hütte war geschlossen, doch durch die nicht verhangenen Fenster der Hütte schauten von außen die Gesichter der heimgekehrten Sklaven – Gesichter, in denen sich ungläubiges Erstaunen widerspiegelte. Sie sahen, wie Miriam und ihr Herr rechts und links von der Sterbenden saßen und ihre Hand hielten. War das die Möglichkeit? Leise zogen sie sich wieder zurück, nicht ohne sich noch einmal vergewissert zu haben, dass sie nicht einer Sinnestäuschung unterlegen waren. Aber nein, es war tatsächlich wahr: Ihr Herr, Charles Eastbourne, gefürchtet wegen seiner unberechenbaren Wutausbrüche und seines gefährlichen Jähzorns, half der alten Thilda beim Sterben! Kopfschüttelnd nahmen sie ihre Mahlzeit ein und hockten sich dann vor die Männerhütte, um ihre Art der Sterbewache zu halten.

   Eine weitere Stunde verging, in der die Stille nicht unterbrochen wurde. Dann sagte Miriam leise: „Sie ist jetzt bereit. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern.“

   Die Alte öffnete die Augen. Wieder flackerte ihr Blick, als ob sie sich klar werden müsse, wo sie war. Ihr Blick dankte Miriam für ihre Hilfe, dann wanderte er auf ihre linke Seite zu Charles. Da war kein Entsetzen mehr in ihren Augen. Charles drückte leicht ihre Hand und beugte sich vor. Dann sagte er leise:

   „Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast.“

   Ihre Augen hielten die seinen noch einen langen Augenblick fest, als müsse das Gesagte erst vollständig und wohlbehalten in ihrem Gedächtnis ankommen. Dann verzog sich der zahnlose Mund zu einem glücklichen Lächeln.

   Fünf Minuten später war die alte Thilda tot. Heimgegangen, um ihre große Rechenschaft abzulegen.

*

   Im gleichen Augenblick begann vor den Hütten der Schwarzen ein seltsamer Singsang. Charles erinnerte sich, so etwas Ähnliches schon einmal gehört zu haben, wusste aber nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Kehlige Laute ertönten, die keinen Text ergaben, eine dumpfe, monotone Melodie erklang, die keinem Schema folgte. Dieser seltsame Gesang hatte alle Elemente des Unheimlichen.

   „Was ist das?“, fragte Charles beunruhigt.

   „Sie begleiten mit ihrem Gesang Thildas Geist noch ein Stück in die große Stille“, sagte Miriam.

   „Sie wissen, dass sie in diesem Moment gestorben ist?“ Charles war fassungslos. Miriam nickte.

   „Wie können sie das wissen? Niemand weiß davon. Nur wir beide.“

   „Sie wissen es eben. Manchmal haben die Menschen, die eng mit der Natur in Verbindung stehen, einen zusätzlichen Sinn. Und meine Rasse lebt nun einmal als fester Teil der Natur.“

   Charles hatte große Mühe, seine Bestürzung zu verbergen. Da missbrauchten die Angehörigen der weißen Rasse die Schwarzen für die niedrigsten Arbeiten, demütigten und knechteten sie aus einem Überlegenheitsgefühl heraus, das wie eine Seifenblase zerplatzte, wenn man bedachte, dass diese angeblichen Untermenschen ein tieferes Wissen hatten als die Weißen!

*

   Charles und Miriam haben beide gleichzeitig dieselbe Idee, nämlich die Hände der Toten auf ihrem Leib zusammenzuführen. Als sie Thildas runzelige Hände ineinander legen, berühren sich auch die ihren, und er greift nach denen des Mädchens. Es ist nicht das erste Mal, dass es einen Körperkontakt zwischen ihnen gibt. Doch dieses Mal ist alles anders: Wie ein elektrischer Schlag wirkt die ungeplante Berührung ihrer Hände. Ihre Blicke treffen sich. Doch während sonst ein freundliches Lächeln diesen Augenkontakt begleitet, findet sich diesmal eine seltsame Ernsthaftigkeit in ihnen. Er hält immer noch Miriams Hände, leicht, vorsichtig wegen der verheilenden Wunden. Miriam verfolgt atemlos, wie er sie an seinen Mund führt und sie küsst. Sie hat einen Augenblick zu lange gezögert, dann ist es zu spät gewesen, sie zurückzuziehen. Warum auch! Es ist ein herrliches Gefühl seine Lippen auf ihren Händen zu spüren, die soeben die alte Sklavin zwischen ihnen in den Tod begleitet haben, viel schöner noch als ein Kuss im Wald, der nicht stattgefunden hat. Damals ist Verführung, erotisches Verlangen im Spiel gewesen, jetzt herrscht eine tiefe Innigkeit vor. In seiner Geste liegt eine ganze Mischung von weiteren Botschaften: Zärtlichkeit, Verehrung, Dankbarkeit, tiefe Zuneigung. Einen langen Moment kosten beide die Magie dieses Augenblicks aus. Dann erhebt sich Charles.

   „Die Arbeit ist getan“, sagt er sachlich „Begleitest du mich ins Schloss?“ Miriam nickt. Ein langer, letzter Blick der beiden gilt der leiblichen Hülle der alten Frau. Genau in dieser Sekunde wird Charles Eastbourne klar, und er schließt nicht aus, dass der Geist der alten Thilda etwas mit dieser Entscheidung zu tun hat, dass er Miriam will. Für den Rest seines Lebens. Nicht als seine Sklavin oder Geliebte. Als seine Frau.

*

   Als Charles und Miriam heraustraten, hielten beide unwillkürlich einen Moment inne und sogen die frische Abendluft ein, die sie wieder in die Realität des Lebens zurückholte. Die Bedrückung des Todes verschwand angesichts der vertrauten Laute: dem Gezwitscher der Vögel im Park, dem Schnauben der Pferde in den nahen Stallungen. Befremdlich wirkte jedoch das Schweigen der Männer vor der Hütte. Sie hatten ihren Gesang eingestellt, sich erhoben und bildeten nun eine Mauer. Die neu hinzugekauften standen im Hintergrund. Mittlerweile war die Gruppe der Schwarzen auf mehr als dreißig Männer angewachsen, hinzu kamen die drei Frauen – das war schon eine beachtliche Kulisse. Kein Laut war zu hören. Charles schoss es durch den Kopf, dass er völlig unbewaffnet war, seine Leute viel zu weit weg, um ihm zu Hilfe kommen zu können. Sie wussten darüber hinaus noch nicht einmal, wo er war. Jedes Messer in der Hand der Schwarzen könnte bei dieser Überzahl absolut tödlich sein.

   Dass die Vielzahl von Sklaven allmählich auch seine Schattenseiten für die Sklavenhalter hatte, zeigte sich immer öfter. In einigen Kolonien, wie zum Beispiel in Virginia, waren die Schwarzen den Weißen zahlenmäßig schon fast überlegen. Sklavenaufstände waren vor Jahren schon, als Charles noch gesellschaftliche Kontakte zu den anderen Plantagenbesitzern pflegte, ein großes Problem. Die ersten Aufstände in South Carolina mussten blutig niedergeschlagen werden. Charles wusste schon, weshalb er seinen Sklavenbestand nur saisonal erhöhte. Es war kaum anzunehmen, dass sich in den Jahren seiner gesellschaftlichen Abstinenz das Problem gebessert hätte.

   Er versuchte die Situation einzuschätzen. Sein Blick maß den der schwarzen Männer ihm gegenüber. Zacharias blickte ihn finster an, doch seine Augen verirrten sich immer wieder zu Miriam. In der hinteren Reihe, wo die neu hinzugekauften Sklaven standen, schaute ihm aus einem Gesicht blanker Hass entgegen. An der Seite stand ein junger Schwarzer und sah ihn durchdringend an. Charles hielt diesem Blick nicht stand und wandte ihn ab.

   Er zögerte. Wenn das der Beginn eines Aufstandes werden sollte, dann tat es ihm vor allem um Miriam leid. Vor allem aber galt es nun, Haltung zu bewahren. Er nahm das Mädchen am Arm und ging auf die Menschenmauer zu. Langsam öffnete sie sich, so dass er durch sie hindurchschreiten konnte. Dass er mit jedem Schritt damit einen Schwarzen mehr im Rücken hatte, war ihm schon klar, aber nicht zu ändern. Seine aristokratischen Gene verboten ihm, misstrauisch hinter sich zu blicken. Mit unbewegter Miene passierte er mit Miriam das bedrohliche Spalier der Männer.

   Plötzlich gab es vor ihm eine Bewegung. Jeremias, einer der Schwarzen mit der schönen Stimme, stürzte auf sie los. In einer Reflexbewegung riss er Miriam an sich, um sie zu schützen und legte dabei seinen Arm um ihre Schultern.

   Doch Jeremias dachte nicht an Mord. Er griff nach Miriams Hand und küsste sie. Schnell zog sie sie zurück.

   „Das darfst du nicht tun, Jeremias“, sagte sie.

   „Du weißt schon“, stammelte der Schwarze.

   „Alles ist gut“, entgegnete Miriam. Sie wechselte einen Blick mit ihrem großen Beschützer, der sie immer noch an sich gedrückt hielt. Ihr Gesicht verströmte Heiterkeit, keine Angst. Er bedauerte einen Moment lang aufrichtig, keinen Grund mehr zu haben, sie zu schützen und ließ sie wieder los. Langsam gingen sie zurück ins Schloss.

   „Sie verehren dich“, sagte er, als sie das Portal passierten.

   „Dich auch. Vielleicht noch nicht alle. Noch nicht. Aber die meisten schon. Sie getrauen sich nur nicht, es dir zu zeigen.“

   „Da bin ich mir nicht so sicher.“

„Aber ich“, bekräftigte Miriam. „Du hast dich heute wundervoll in deiner Rolle als Vater gezeigt.“

   Charles war verblüfft. „Als Vater? Wie kommst du denn darauf? Da sind einige dabei, die sind mehr als doppelt so alt wie ich.“

   „Das spielt keine Rolle“, sagte Miriam unbeirrt. „Das ist keine Frage des Alters. Es ist ein Unterschied, ob sie in dir den gestrengen Herrn oder eine Art Vater sehen. Der Master, der harte Befehle erteilt und bestraft, macht ihr Los unerträglich. Aber wenn sie in ihm eine Vaterfigur sehen können, dann erlaubt ihnen das, in einer Illusion zu leben, als ob sie Teil einer Familie wären. Dann macht auch die harte Arbeit nichts aus. In der Freiheit müssen wir alle mitunter ja auch hart arbeiten.“

   Er lächelte wieder. „Jetzt werde ich doch noch Vater“, sagte er. „Vater von ein paar alten Schwarzen. So hab ich mir das eigentlich nicht vorgestellt.“

   „Na, wenigstens ist dir in diesem Fall die schwierige Phase der Flegeljahre erspart geblieben.“

   Er lachte laut auf. Das erste Lachen an diesem Tag! Und wieder ging es auf das Konto dieses unglaublichen Mädchens.

   Und weil der Erfolg des Handkusses in der Hütte ein so überwältigender gewesen war, wiederholte er ihn wieder, als sich ihre Wege trennten und er in sein Jagdzimmer und sie in den Westflügel ging. Miriam wehrte sich nicht dagegen.

   „Ich danke dir für diesen Nachmittag. Er ist allerdings etwas anders verlaufen, als ich mir das vorgestellt habe“, sagte er zum Abschied.

   „Ich habe zu danken, dass du mir geholfen hast. Das war keine einfache Arbeit. Und ich habe wieder einmal recht gehabt: Du bist doch ein außergewöhnlicher Mann.“

*

   Drei Stunden später kam Winston atemlos, aber überglücklich die Treppe herauf.

   „Master Charles, sind Sie noch auf?“

   „Aber ja, Winston, ich werde wohl auch eine ganze Zeit lang nicht schlafen können. Was gibt’s denn?“

   „Master Charles, da sind Jacob und Samuel. Sie wollen raufkommen, bitten darum. Erlauben Sie das? Bitte, Master Charles!“

   „Was ist denn passiert?“

   „Ich sag nix! Ist eine Überraschung.“ Das pfiffige Gesicht des Alten war ein einziges Strahlen.

   Charles zuckte die Schultern. „Ich lasse bitten“, sagte er, betont förmlich. Der Alte wieselte mit ungelenken Schritten wieder hinaus.

   Kurze Zeit später erschienen zwei seiner Schwarzen mit einem Korb selbstgebackener Früchtepasteten. Dekoriert war der Korb mit einer Mirabilis-Blüte, einem Glücksbringer. Nachdem sich ihre heruntergeklappten Kinnladen wieder eingerenkt hatten (Charles’ Jagdzimmer kannten sie nur aus den Erzählungen der Frauen), stammelten sie verlegen ihren Dank. Jacob schwang die Rede.

   „Das haben wir gebacken für Sie, Master Eastbourne. Was Sie für Thilda getan haben, Sie und Miriam natürlich, das war...“ Hilflos schwamm er in einer Suppe von diffusen Begriffen auf der Suche nach dem richtigen Ausdruck, der das große Ereignis angemessen würdigen würde. Er war entsetzlich aufgeregt. Dies war schließlich die erste Rede, die er hielt. „Das war...“ Wieder fehlte der richtige Superlativ, und er brach verlegen ab.

   „Ganz in Ordnung?“, half Charles.

   Der Schwarze strahlte vor Erleichterung. „Genau!“

   „Danke!“, sagte Charles.

   Er hatte schon lange keine so gelungene Ansprache mehr gehört.

 

 

 

   Leseprobe 3

 

Nachdem Charles Eastbourne die Attenboroughs von der Ernsthaftigkeit seiner Heiratsabsichten überzeugt hat, bittet er Miriam zu sich.

 

   Am nächsten Morgen stand Miriam in der Tür zu seinem Jagdzimmer.

   „Winston sagte mir, dass du mich sprechen willst?“

   „Das ist richtig. Komm herein und schließ bitte die Tür hinter dir.“ Das tat sie.

   „Möchtest du dich setzen?“

   „Danke. Aber ich glaube, ich stehe lieber.“

   Miriam war unbehaglich zumute. Richard und Ann waren auf eine nicht klar zu definierende Art verändert mit ihr umgegangen heute Morgen. Freundlich, ja, aber irgendwie anders. Etwas wie Beklemmung lag in der Luft. Dann Winstons förmliche Bitte. Auch Charles war anders als sonst. Ernster, angespannter. Was hatte das alles zu bedeuten?

   „Ich weiß nicht, ob du über die gravierenden Veränderungen schon unterrichtet bist“, begann Charles mit sachlicher Stimme. Miriam lief es kalt den Rücken herunter.

   „Ich weiß nicht, wovon du redest. Niemand hat mir irgendetwas gesagt. Was ist passiert?“

   Charles leistete sich eine genüssliche Pause. Dann sagte er langsam und mit übertriebener Deutlichkeit: „Richard und Ann haben dich gestern an mich verkauft.“ Und damit auch wirklich alles klar war, fügte er hinzu: „Du bist jetzt meine Sklavin.“

   Miriam wechselte die Farbe. Trotz ihrer milchkaffeebraunen Haut schien kein einziger Blutstropfen mehr in ihrem Gesicht zu sein. Ihre Lippen zitterten, als sie kraftlos protestierte: „Das ist nicht wahr. Das kann nicht sein.“

   Er zog wortlos den improvisierten Kaufvertrag hervor, in dem Richard bestätigte, dass die Sklavin Miriam an den neuen Besitzer Charles Eastbourne überging und dass ein nicht näher bezifferter Kaufpreis vollständig entrichtet war. Ungläubig starrte sie auf das feindselige Stück Papier, das in dürren Worten dokumentierte, dass ihr herrlich behütetes Leben als Mitglied der Attenborough-Familie beendet war.

   „Was hast du getan, um sie dazu zu bringen?“, fragte sie tonlos.

   „Oh, ich hatte ein paar sehr gute Argumente, die sie nicht ignorieren konnten.“ Er war sich bewusst, wie falsch seine Worte interpretiert werden konnten, aber das störte ihn im Augenblick nicht. Er liebte das Spiel mit der Überraschung.

   „Dann hast du ja, was du willst. Jetzt muss ich endlich deinen Befehlen gehorchen.“

   „Richtig“, nickte er. „Endlich!“

   Miriams Augen hatten ihre Klarheit verloren. Ein kaum merklicher Schleier von Tränen hatte sich darüber gelegt, die sie jedoch tapfer unterdrückte. Ihr Blick hatte sich in seinen versenkt, aber es fehlte das übliche Lächeln. Sie glaubte zu wissen, was nun folgte. Langsam löste sie den Knoten ihres Brusttuchs und bot ihm einen Blick in den Ansatz ihres Busens, den er bereits einmal genossen hatte. Dann öffnete sie, einen nach dem anderen, die Knöpfe ihrer Bluse. Er ließ sie gewähren. Der Anblick ihrer festen Brüste raubte ihm den Atem. Doch bevor sie sich weiter entkleiden konnte, stoppte er das Spiel.

   „So reizend dieser Anblick auch ist und so sehr er ein Männerherz auch höher schlagen lässt – zieh dich wieder an! Ich schlafe mit keiner Sklavin.“

   Miriam war wie vor den Kopf geschlagen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Wie oft war er derjenige gewesen, der versucht hatte, die Barrieren zu beseitigen, die ihren Stand trennten – der knapp vermiedene Kuss am See, sein Beharren, dass sie ihn beim einfachen Namen nannte. Und jetzt war er es, der ihr wieder in fast harscher Manier die Niedrigkeit ihres Sklavendaseins vor Augen führte, die Verachtung des Herrenmenschen gegenüber dem Rechtlosen, dem Unfreien. Hatte sie sich so getäuscht?

   „Es tut mir leid. Ich glaube, ich habe einige Signale fehlgedeutet“, sagte sie verlegen und begann die Bluse wieder zu schließen.

   „Du hast nichts fehlgedeutet. Ich will sehr wohl mit dir schlafen“, sagte er und weidete sich an ihrer Ratlosigkeit. „Aber nicht als Sklavin. Du sollst in Freiheit entscheiden, ob du das willst. Lies das!“

   Er hielt ihr ein weiteres Stück Papier hin. Sie überflog das Geschriebene.

   „Du gibst mir die Freiheit?“

   „So ist es! Ab sofort bist du keine Sklavin mehr, sondern so frei wie ich.“

   Miriam stand einen langen Moment stumm vor ihm. Eine Ewigkeit plätscherte dahin, in der sie sich um festen Boden unter den Füßen bemühte. Er hatte sie gekauft, um sie freizulassen, damit sie sich ihm in Freiheit hingebe. Diese Verkettung der Absichten war ihr noch bewusst. Nun gut. Sie war frei. Sie könnte sich umdrehen, ‚Lebe wohl’ sagen und sein Zimmer verlassen. Damit hätte sie zwar Freiheit bewiesen, ihn aber auch um den Lohn geprellt. Das widerstrebte ihr. Miriam blieb niemandem was schuldig. Alles hat seinen Preis! Sollte er den seinen bekommen. Wieder begann sie ihre Bluse aufzuknöpfen, wieder wartete er, bis er Einblick in die ebenso verbotenen wie atemberaubenden Regionen ihres Körpers bekommen hatte, bevor er sagte: „Geht das schon wieder los? Du scheinst ja ganz versessen darauf zu sein, mit mir zu schlafen.“

   Hastig bedeckte sie wieder ihre Blöße, und die Tränen in ihren Augen ließen sich nun nicht mehr zurückhalten. „Was willst du von mir?“

   „Wenn du unbedingt willst, dann schlafe ich auch mit dir“, sagte er und zuckte die Achseln, als spräche er von einer lästigen Notwendigkeit, durch die man halt durchmüsse. Als er ihre Empörung sah, trieb er vergnügt das Spielchen noch etwas weiter. „Ich sage dir aber gleich: Ich habe das schon einige Male gemacht, und jedes Mal habe ich nach einer solchen Nacht das Interesse an der betreffenden Frau verloren. Sowas macht eine anständige Frau einfach nicht.“ Er schüttelte tadelnd den Kopf.

   Miriam war beschämt und ratlos. Alles, was bisher Bestand hatte, brach in sich zusammen.

   „Ich verstehe dich nicht mehr. Eben hast du noch gesagt, dass du mit mir schlafen willst...“

   Er beendete die Komödie. Seine kleine Rache für die Szene am See, wo er reichlich dumm ausgesehen hatte, hatte er weidlich ausgekostet. Jetzt wurde es ernst.

   „Das will ich auch immer noch. Mehr als du denkst.“

   „Aber...“

   „Aber ich will es so, dass alles stimmt.“ Er machte eine kleine Pause, bevor er alle seine Karten auf den Tisch legte. „Ich will, dass du es als meine Frau tust.“

   Miriam starrte ihn an, und der Sinn dieser Worte weigerte sich zunächst, bis zu ihrem Gehirn vorzudringen. Doch dann war kein Zweifel mehr möglich. Der Satz ließ sich nicht anders interpretieren als...

   „Hör auf mit mir zu spielen“, sagte sie tonlos. Aber Charles schüttelte den Kopf.

   „Du hast richtig gehört. Ich habe dich soeben gebeten, meine Frau zu werden.“

   Nun setzte sich Miriam doch auf den angebotenen Stuhl. Die Beine versagten ihr den Dienst.

   „Das ist doch verrückt. Ich bin eine Sklavin...“

   „Bist du nicht. Schon vergessen?“ Er tippte nachlässig auf das Stück Papier, das ihr ihre Freiheit garantierte. „Und ‚verrückt’ würde ich auch nicht sagen. ‚Unüblich’, ja, aber verrückt?“

   Miriam bot all ihre Selbstbeherrschung auf und sortierte ihre Gedanken. Das war gar nicht so einfach, denn das Chaos in ihrem Kopf war nicht mehr zu kontrollieren. Gefühle und Verstand bildeten ein wirres Durcheinander und hinderten sie daran, zu begreifen, was um sie herum passierte. Sie schloss die Augen einen Moment und zwang sich zur Ruhe. Als Charles wieder anhob, um etwas zu sagen, stoppte sie ihn mit einer kleinen Handbewegung. Sie brauchte noch einen Augenblick. Dann kam allmählich ihre Selbstsicherheit in winzig kleinen Schritten wieder zurück. Die Gefühle waren da, wo sie hingehörten, und der Kopf wurde langsam wieder klar und einsatzbereit.

   „Dein Angebot ehrt mich, aber ich muss es ablehnen“, sagte sie mit unsicherer Stimme.

   Charles war nicht überrascht. Er hatte mit einer Absage gerechnet. Wohlgemerkt als erste, spontane Reaktion. Man würde sehen, wie sich die Diskussion entwickelte.

   „Warum musst du ablehnen?“

   „Weil der Unterschied zwischen uns zu groß ist.“

   „Es ist der Unterschied zwischen Mann und Frau. Und der ist immer groß.“

   „Du weißt ganz gut, was ich meine.“

   „Weiß ich nicht. Erklär’s mir!“

   „Du bist der Herr dieses Schlosses und ich... Du glaubst doch nicht, dass irgendjemand vergessen kann, dass ich unfrei geboren bin, selbst wenn du mir jetzt die Freiheit gegeben hast.“

   Charles war auf dieses Argument bestens vorbereitet.

   „Aha. Bist du nicht diejenige gewesen, die noch vor nicht allzu langer Zeit gesagt hat, dass nur das zählt, was jetzt ist, dass un-wichtig ist, was in der Vergangenheit war?“

   Miriam erinnerte sich sehr wohl an dieses Gespräch am Bett der alten Thilda.

   „Das reißt du jetzt aus dem Zusammenhang“, sagte sie unwillig.

   „Tu ich nicht. Das kann man sehr wohl miteinander vergleichen. Gelten deine Erkenntnisse nur, wenn sie in dein Konzept passen?“

   „Du bist unfair“, sagte sie schwach. Aber sie wusste selbst, dass dieser Vorwurf nicht zutraf. Es war eben nur nicht besonders angenehm, mit seinen eigenen Waffen geschlagen zu werden.

   Sie kämpfte immer noch mit einem Bodensatz an brodelnder Unruhe, doch allmählich übernahm ihr klarer Verstand wieder das Regiment. Jetzt würde es schwierig werden für Charles.

   „Charles, du gehörst einem alten englischen Adelsgeschlecht an. Was werden deine Portraits in der Festhalle dazu sagen, wenn du...“

   „Ach, hör auf, Miriam. Das mit den Bildern in der Halle – das ist mein Scherz. Keiner von denen sagt mehr irgendwas. Die sind tot. Aber wir leben.“

   Miriam schüttelte den Kopf.

   „Das siehst du falsch, Charles. Die Portraits dieser Männer sagen sehr wohl etwas. Sie sagen dir, wer du bist, wo du herkommst, für welche Werte du stehst.“

   „Und für welche Werte stehe ich deiner Meinung nach?“

   Miriam blieb einen Augenblick lang die Antwort schuldig. Wofür stand der Adel?

   „Ich weiß nicht recht. Für Würde, Noblesse, für Vornehmheit.“

   „Und wieso sollte ich das nicht mehr verkörpern können, wenn ich dich heirate?“

   „Weil all diese Eigenschaften nur innerhalb der Gesellschaft wirken und weil ich all das nicht verkörpern kann. Ich habe schwarzes Blut in mir. Wie willst du in der Gesellschaft für Würde und Noblesse stehen mit einer Negerin an deiner Seite, die jeder verachtet? Du bist etwas Besseres.“

   Ihr Gefühl von Minderwertigkeit schnitt ihm ins Herz. Er stand auf, ging um den Tisch, der wie eine trennende Barriere zwischen ihnen stand, und setzte sich auf den Stuhl neben ihr. Jetzt war es einfacher, ihr in die Augen zu sehen.

   „Jetzt redest du Unsinn. Ich bin nichts Besseres. Das wäre schön, wenn adelig sein gleichbedeutend wäre mit ‚besser sein’. Aber glaub mir, es gibt nirgendwo so viele Schurken und Halunken wie im Adel. Macht kann nämlich auch korrumpieren, und dann bist du, menschlich gesehen, ein größerer Lump als es ein Sklave je sein kann.“

   Ein starkes Argument hatte er da aufgefahren. Doch Miriam hielt dagegen.

   „Du wirst nicht leugnen können, dass es in einer Gesellschaft Ungleichheit gibt. Und der Adel steht nun mal oben, und der Sklavenstand steht ganz unten. Und deshalb gibt es welche, die schwingen die Peitsche, und andere werden ausgepeitscht.“

   Er schwieg. Er hatte es gewusst, dass diese Diskussion nicht einfach werden würde.

   „Das mit Zacharias und den anderen zwei Ausreißern hast du mir nie verziehen.“

   Aber Miriam schüttelte energisch den Kopf.

   „Ganz im Gegenteil. Wenn ich dir eines hoch anrechne, dann dein Verhalten an diesem Tag. Du hast Zacharias begnadigt und damit gezeigt, dass du auch das Leben eines Schwarzen achtest.“

   Das war der erste dicke Punkt auf seiner Habenseite. Er hatte damals den Ausreißer und Pferdedieb nicht aufgeknüpft, was er als Schwäche, aber Miriam als Großherzigkeit ausgelegt hatte. Wenn ihm das jetzt, in dieser Situation, wo es um sein Lebensglück ging, zum Vorteil gereichen sollte, dann würde er dem Halunken Zacharias eine Flasche Champagner in die Hütte schicken. Er ging noch weiter.

   „Wenn das dein Preis ist, dann gebe ich allen Schwarzen unten in den Hütten ihre Freiheit.“

   Miriam schluckte. Er meinte es wirklich ernst, und dieses Angebot war in der Tat verlockend. Doch dann verwarf sie es wieder. Zum einen durfte sie sich selbst nicht zu einer Ware machen, die einen Preis hatte, und zum zweiten war den Schwarzen mehr geholfen, wenn sie in Verhältnissen lebten, wo sie es gut hatten, als wenn sie „frei“ waren. Denn sie wusste auch, dass dieser Begriff eine ganz andere Bedeutung hatte, wenn er für die Schwarzen gebraucht wurde. Sie konnten vielleicht einen Brief vorzeigen, der ihnen auf dem Papier eine Freiheit bestätigte, die aber de facto nicht existierte. Außerdem gab es genügend Sklavenjäger, die genau darauf spezialisiert waren: Sklaven, die entweder geflohen oder freigelassen waren, wieder einzufangen, bevor sie nach Norden, nach Kanada kamen, wo die Sklaverei verboten war. Den Brief zu zerreißen und die Gefangenen neu zu versklaven, war ein lukratives Geschäft.

   Miriam schüttelte den Kopf. „Es genügt schon, wenn du ihnen ein gütiger Herr bist“, sagte sie.

   „Ein Vater?“, hakte er nach und erinnerte damit auch indirekt an seinen Einsatz am Sterbebett der alten Thilda. Auch das war ein Punkt, der Miriam beeindruckt hatte. Es war jetzt wichtig, alles, was zu seinen Gunsten sprach, mit einfließen zu lassen.

   Gleichzeitig wurde ihm wieder bewusst, wie grundsätzlich anders sein Werben um diese Frau hier verlief im Vergleich mit dem um Maureen, welche Eigenschaften und Kriterien hier eine Rolle spielten und welche damals. Er stellte sich vor seinem geistigen Auge Miriams geringschätziges Lächeln vor, wenn er versucht hätte, sie mit einer Prügelei zu beeindrucken. ‚Armseliger, wichtigtuerischer Wicht’, würde es gesagt haben. ‚Selbstverliebter Esel!’

   „Ja, ein Vater“, sagte Miriam. „Du bist ihnen ein guter Herr.“

   „Geworden“, ergänzte Charles ehrlich. „Erst nachdem du auf mich eingewirkt hast. Ich sag dir, vorher hab ich mir einfach keine Gedanken darum gemacht. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt.“

   „Aber wichtig ist doch nur, was du jetzt bist. Was du vorher warst...“ Sie merkte zu spät die Falle, in die sie lief und brach ab. Aber er ergänzte unbarmherzig den Rest des Satzes.

   „...das zählt nicht! Richtig. Danke für’s Stichwort. Genauso wenig zählt, dass du vorher eine Sklavin warst. Das einzige, was zählt, ist, dass du jetzt frei bist.“

   „Es ist furchtbar mit einem zu diskutieren, der einem so das Wort im Mund rumdreht“, seufzte sie.

   „Das lass ich so nicht stehen. Ich bin kein Wortverdreher. Ich wende nur die Erkenntnisse an, die du mir vermittelt hast. Was ist falsch daran?“

   Sie sah ihn schweigend an und musste anerkennen, dass er einen weiteren Punkt verbuchen konnte. Er spürte sein Oberwasser und fuhr fort:

   „Dazu kommt, dass niemand in dir eine Sklavin sieht. Richard nicht, Ann nicht, schon gar nicht Mike und die anderen Männer. Und ich doch am allerwenigsten.“

   Auch das stimmte. Der einzige, der sie offenbar im tiefsten Herzen ablehnte, war ein Schwarzer, Josua, der neue Sklave.

   „Das mag sein. Aber das ist nicht übertragbar auf die anderen, ich meine die Gesellschaft von Asheville. Da herrschen andere Spielregeln.“

   Es klang weder überheblich noch selbstherrlich, als er mit großem Selbstbewusstsein antwortete: „Ich bin mächtig genug, um mir nicht die Spielregeln anderer diktieren zu lassen. Schon gar nicht die von der Asheviller Gesellschaft. Ich bin dabei, mir meine eigenen Spielregeln für mein Leben zu entwerfen. Ich war lange genug eine Marionette, habe an Fäden getanzt, die andere gezogen haben. Das ist vorbei.“

   Miriam war beeindruckt von dem Stolz, der aus seiner Stimme und aus seiner ganzen Haltung sprach. Doch sie ließ nicht locker.

   „Kann man wirklich völlig frei seine eigenen Spielregeln entwerfen? Wir leben nicht auf einer Insel. Wir sind immer Teil eines großen Ganzen, in dem wir unsere Aufgabe haben. Du kannst doch nicht alles, was dir nicht passt, über Bord werfen.“

   „Wieso nicht?“

   „Es ist doch auch eine Frage des Respekts deiner Familie gegenüber, dass du dich ihren Regeln gegenüber konform verhältst. Ich meine den Respekt vor sich selber“.

   „Ich versichere dir, Miriam, gerade das Leben nach den Regeln der anderen, eine Frau von Stand suchen, bei allen Festivitäten vertreten sein und zu glänzen, hat mich in eine Katastrophe gestürzt und dazu geführt, dass ich den Respekt vor mir verloren habe.“

   Miriam kannte die Geschichte seiner Ehe nicht und war von daher nicht überzeugt.

   „Trotzdem: Ich denke, einer der wenigen Nachteile deines Standes ist es, dass du eben nicht tun und lassen kannst, was du willst. Du stehst, genau genommen, unter ständiger Beobachtung. Du bist eine Person des öffentlichen Interesses, und man hat zu allem, was du tust, eine Meinung. Aber auch unabhängig von den andern: Die Werte, mit denen du groß geworden bist, wirken in dir fort, ob du willst oder nicht. Du bleibst an sie gebunden.“

   Charles schüttelte den Kopf.

   „Nicht, wenn du sie dir bewusst machst. Ich meine, richtig mit dem Verstand durchdenkst, auf den Prüfstand stellst. Und dann kann es passieren, dass ein paar von ihnen mit Getöse hinten runterfallen. Nicht alle. Einiges ist ja auch in Ordnung. Aber ich möchte das Recht für mich herausnehmen, auszusortieren, was mir nicht mehr passt, und ich will sie ersetzen durch andere, die richtig sind. Und wenn eine dumme Gesellschaft, wie die in Asheville, oder ein paar ziemlich Tote im Goldrahmen in meiner Halle unten meinen, es schicke sich nicht für einen Aristokraten eine Frau zu heiraten, die schwarzes Blut in sich hat, dann möchte ich für mich in Anspruch nehmen zu sagen: Falsch! Unsinn! Dummheit! Eure Werte sind die falschen. Ich habe wichtigere ausgemacht.“

   „Welche wären das?“

   Die Antwort auf diese Frage würde Türen aufstoßen oder schließen. Er sah sie ernst an.

   „Verantwortung für andere übernehmen? Füreinander da sein?“

Miriam schwieg.

   „Glaub mir“, fuhr er fort, „ich bin nicht bereit, mein Lebensglück einer verstaubten Idee von Vornehmheit und Aristokratentum zu opfern. Genauso wenig kann mir eine oberflächliche, mitleidlose Gesellschaft ihre Regeln diktieren. Ich lasse mir nicht von alten Zöpfen sagen, was schicklich ist, und ich kann auf die Zustimmung einer Gesellschaft verzichten, die mich hat links liegen lassen, als ich Hilfe gebraucht habe. Ich möchte ein Leben nach meinen Werten leben. Nur dann kann ich glücklich werden.“

   „Das ist eine mutige Ansage“, befand Miriam.

   „Finde ich auch. Deshalb wäre es gut, wenn ich eine kluge Frau an meiner Seite hätte.“

   Er wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie entzog sich ihm, was ihm zeigte, dass er noch meilenweit entfernt von seinem Ziel war.

   „Bitte nicht“, bat sie.

   „Es sollte nicht mehr als ein züchtiger Handkuss werden“, beruhigte er.

   „Oh, nein. Selbst deine Handküsse können verheerende Wirkungen haben“, seufzte sie und erhob sich. „Ich muss nachdenken, einen klaren Kopf behalten. Gib mir etwas Zeit.“

   Charles verstand.

   „Ich dränge dich nicht. Denk in Ruhe darüber nach. Ich warte auf deine Antwort.“

   Sie hatte schon fast die Tür erreicht.

   „Miriam! Willst du nicht deine Freilassungsurkunde mitnehmen?“ Er hielt den Wisch in ihre Richtung.

   „Bewahr sie für mich auf. Ich verlier sie vielleicht.“

   „Verlieren? Diese Urkunde?“

   Miriam nickte.

   „Bei unwichtigen Sachen passiert mir das manchmal.“

*

   Der alte Winston strickte an einem Heiligenschein, der Charles definitiv zu groß war. Jedem, der es hören wollte, erzählte er in beredten Worten, wie sein Herr die alte Thilda auf ihrem Weg in die ewigen Jagdgründe begleitet hatte. Er erzählte es auch denjenigen, die es nicht hören wollten. Auf solche Kleinigkeiten kann man halt keine Rücksicht nehmen, und so nervte er beständig alle, die ihm über den Weg liefen, mit Storys von Charles’ übergroßer Nächstenliebe, die ihn allmählich in den Rang eines Heiligen erhoben. Nur Mammy gegenüber traute er sich nichts zu sagen. Die konnte so abschätzend gucken und glaubte einfach nicht alles. Die war ein ziemlich schwieriger Fall und außerdem aus erster Quelle möglicherweise auch mit sachlicheren Informationen gefüttert. Da konnte er nicht landen, obwohl er es gerne getan hätte. Aber ansonsten war niemand vor ihm sicher.

   Als Charles am nächsten Morgen auf der Suche nach einem heißen Kaffee (und vielleicht einem zufälligen Kontakt mit Miriam) in der Küche vorbeischaute, wurde er unfreiwillig Zeuge einer Probe von Winstons wundersamer Fabulierkunst. Ernsthaft wollte er Kate und Mary weismachen, dass sein Herr der alten Thilda segnend die Hände aufs Haupt gelegt hatte, bevor sie verschied.

   „Oh, Winston. Das reicht jetzt aber“, sagte er genervt und signalisierte den beiden mit einem Kopfschütteln, dass das alles barer Unsinn war. Kichernd und knicksend verließen die Mädchen den Raum.

   „Winston, wie kannst du nur so einen Blödsinn erzählen. Das stimmt doch alles nicht.“

   „Könnte aber stimmen“, verteidigte sich der Alte. Vor so viel Logik kapitulierte Charles. Der Alte versprach ihm hoch und heilig, bei der Wahrheit zu bleiben, was nichts anderes hieß, als dass er das Übertreiben in erträglichen Grenzen hielt. Aber es machte so viel mehr Freude, solche Geschichten über seinen Herrn zu verbreiten als in der Vergangenheit immer wieder die üblen Anfälle und Wutausbrüche, seine Ungerechtigkeiten und seinen Jähzorn zu erklären und zu entschuldigen. Der treue Alte war überglücklich, dass die Sklaven wieder anfingen, voller Wohlwollen von seinem Herrn zu reden. Gut, von Zacharias und von Matthew war nicht viel in der Richtung zu erwarten, und auch der düstere Neue, Josua, war kein dankbarer Zuhörer, wenn es um Lobenshymnen über Charles ging. Aber die anderen Neuen schienen ganz zufrieden mit ihrem Los zu sein, dass sie auf Eastbourne Castle gelandet waren.

*